Wie die Zeit vergeht: Unser Kolumnist Jochen-Martin Gutsch gratuliert seinem Kollegen Maxim Leo zum 50. Geburtstag. (Berliner Zeitung)
Berlin – In diesem Jahr werden auffällig viele meiner Freunde 50 Jahre alt. Manchmal frage ich mich: Warum, zur Hölle, kennst du so viele alte Knacker? Warum suchst du nicht die Nähe zu jungen, frischen Menschen? Die riechen auch viel besser.
Der erste 50. Geburtstag, an den ich mich erinnern kann, war der meines Vaters. Ich war 12 Jahre alt, ein Kind, das staunend auf die Erwachsenen schaute. 50 Jahre! Diese Menschen lebten also schon viel länger als der Dreißigjährige Krieg dauerte. Heute schaue ich staunend auf die Kinder. Wie muss es sich wohl anfühlen, erst zwölf Jahre auf der Welt zu sein?
In den vergangenen Tagen habe ich, 48-jährig, jede Folge der wunderbaren Fernsehserie „Sex Education“ gesehen, über pubertierende Teenager, die mit den Unsicherheiten und Freuden der Adoleszenz zu kämpfen haben. Und sofort wollte ich wieder 16 Jahre alt sein. Nicht, weil damals alles viel einfacher war. Sondern, weil man so schön nach vorne lebte. Es gab keinen Blick zurück, alles Gute lag in der Zukunft. Nicht in der Vergangenheit.
18 Jahre fühlen sich sehr kurz an
Besonders seltsam ist es nun, wenn Leute 50 werden, die man seit der Kindheit kennt. So wie mein Freund und Kollege Maxim Leo. Ich habe noch sein Kindergesicht vor Augen, und es ist schwer zu begreifen, dass daraus innerhalb kürzester Zeit ein 50-jähriges Männergesicht wurde. Allein diese Kolumne schreiben Leo und ich schon seit 18 Jahren – eine Zeit, in der ein Mensch erwachsen wird. Aber wenn mich jemand fragt, wie sich diese 18 Jahre anfühlen, dann würde ich sagen: sehr kurz, es war gestern. Höchstens vorgestern. Irgendwann hat die gefühlte Zeit einfach nichts mehr zu tun mit der realen Zeit.
2013 rief ich Leo aus meiner Wohnung in New York an. Ich war dort gerade Korrespondent geworden. Und fühlte nichts als Leere. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich erbrach mich in der Toilette. Ich sah hinunter auf den Hudson, der vor meinem Wohnzimmerfenster in der Sonne glitzerte, und wünschte mir, ich könnte in den Fluss steigen, ganz tief und mich dort auf den Grund legen. Alles ist still. Niemand zerrt an mir. Ein ewiger Friede für einen depressiven Mann.
Leo sagte am Telefon: Du buchst jetzt einen Flug zurück. Er organisierte mir einen Platz in einer Klinik. Das hat mich wohl gerettet. Manchmal ist es doch ganz gut, 50-Jährige zu kennen, auch wenn sie damals noch gar nicht 50 waren.
Lebensabschnitte an Fußballweltmeisterschaften einteilen
Am besten kann ich mich heute in der Zeit orientieren, indem ich Lebensabschnitte an Fußballweltmeisterschaften vermesse. Wann wurde ich eingeschult? Im Jahr der Weltmeisterschaft 1978. Wann habe ich meine Frau kennengelernt? Im Jahr der Weltmeisterschaft 2010. Manchmal helfen mir auch Filme, Songs oder Platten. Dirty Dancing? 1988. Kino Kosmos. Der mit dem Wolf tanzt? 1990. Zoopalast. Million Dollar Baby? 2003. Tallinn. Obwohl die Jahreszahlen etwas erschreckend wirken.
Eines meiner absoluten Lieblingsalben ist „(What’s the Story) Morning Glory?“ von Oasis aus dem Jahre 1995. Ich weiß natürlich, dass die Platte nicht mehr taufrisch ist. Aber 25 Jahre alt? Ein Vierteljahrhundert?
Als ich Ende der 70er-Jahre erste musikalische Erfahrungen mit den Beatles sammelte, denn meine ältere Schwester liebte die Beatles und sie hatte einen Kassettenrekorder, da erschrak ich über die Tatsache, dass es die Beatles gar nicht mehr gab. Aufgelöst 1970. Vor meiner Geburt. Ich hörte Musik aus der Urzeit. Aber damals waren die Beatles gerade mal seit neun Jahren Geschichte. Quasi Newcomer, verglichen mit Oasis heute.
Als mein Freund Maxim Leo vor ein paar Tagen die zahlreichen Kerzen auf seiner Geburtstagstorte ausblies, musste ich plötzlich an ein Zitat denken. Mir fiel nicht mehr ein, von wem. „Je älter man wird, desto mehr ähnelt die Geburtstagstorte einem Fackelzug.“ Tja. Happy Birthday, ihr lieben 50-Jährigen!
09.02.2020 – Jochen-Martin Gutsch