Gern tref­fe ich mich mit Freun­den. Ich mag es, in einer Bar oder in einem Restau­rant zu sit­zen, und dann redet man und trinkt und isst. Was gibt es Schö­ne­res? Jetzt, im Janu­ar, sagen erstaun­lich vie­le Freun­de zu mir: Ich trin­ke kei­nen Alko­hol, ich »deto­xe«. Oder: Ich mache »Dry Janu­ary«. Oder: Ich esse kein Fleisch, ich mache »Vega­nu­ary«.

Das Wort »Vega­nu­ary« schreibt sich leich­ter, als es sich spricht.

Vor ein paar Tagen saß ich mit einem Freund zusam­men, der »detoxt«. Ich trank Gin Tonic, er Saft­schor­le. Wenn man neben einem Deto­xer Alko­hol trinkt, fühlt man sich beson­ders toxisch. Wie der letz­te Säu­fer. Gegen die­ses Scham­ge­fühl kämp­fe ich an, indem ich noch mehr trin­ke. Deto­xer haben auf Toxer kei­nen guten Ein­fluss, wes­halb man ihre Gegen­wart mei­den soll­te. Wobei ich nichts gegen das Deto­xen sagen will. Deto­xen, so hat es mir der Freund erklärt, funk­tio­niert wie eine inne­re Müll­ab­fuhr. Nur: war­um aus­ge­rech­net im Januar?

Als ich ein Kind war, setz­te mich mei­ne Mut­ter im Janu­ar vor die Höhen­son­ne, damit ich nicht an Licht­man­gel ster­be. Ich saß dort nackt und frös­telnd und schau­te mit einer rie­si­gen Licht­schutz­bril­le in das brum­men­de Gerät, aus dem der Geruch von Ozon ström­te. Heu­te schaue ich im Janu­ar aus dem Fens­ter und sehe die­se sup­pi­ge, kalt-näs­sen­de Mas­se: Das ist der Janu­ar, ein Monat, so häss­lich wie ein Nackt­mull. Im Janu­ar sum­me ich in Melan­cho­lie ver­sun­ken ein Lied der Band Blum­feld: »Es reg­net, und ich kann nicht mehr / Wo ist der blaue Him­mel hin? / Ich weiß nicht, war­um ich lebe / Nur, dass ich am Leben bin.«

Im Janu­ar schlu­cke ich Husten­löser oder Aspi­rin Com­plex Gra­nu­lat. So schmeckt der Janu­ar. Im Janu­ar fra­ge ich im Restau­rant nach dem ­Sai­son­ge­mü­se, und der Kell­ner sagt: Steck­rü­ben. Rosen­kohl. Wir­sing. Wür­gend esse ich Wir­sing im Janu­ar. Im Janu­ar gibt es kei­ne Mücken oder Wes­pen. Schön! Dafür gibt es Win­ter­sport bei ARD und ZDF. Renn­rod­ler, Eis­schnell­läu­fer, Biathleten.

Im Janu­ar wol­len es sich alle zu Hau­se »gemüt­lich machen«. Im Janu­ar ist über­haupt nichts los. Noch weni­ger los ist nur auf dem Fried­hof. Im Janu­ar war­tet man jeden Tag auf den Febru­ar, der in Wahr­heit auch Janu­ar ist. Nur kür­zer. Deto­xen? Alko­hol­fas­ten? Ich kann mir ja grund­sätz­lich alles vor­stel­len. Aber nicht im Janu­ar. Die­sen Monat muss man sich schönsaufen.

Trotz­dem bin ich jetzt Deto­xer. Aus Zufall. Mit Beginn des neu­en ­Jah­res lag mei­ne Zei­tung nicht mehr im Brief­kas­ten. Viel­leicht ist der Zu­steller ver­stor­ben, ich weiß es nicht. Jeden­falls woll­te ich beim Leser­service des »Tages­spie­gel« anru­fen, ta­gelang woll­te ich das. Aber dann war es ganz schön ohne Zei­tung. Die Apo­ka­lyp­se schwappt nicht gleich mor­gens in die Woh­nung. Statt Zei­tung zu lesen, höre ich Klas­sik-Radio. Die Strei­cher strei­chen, die Blä­ser bla­sen, die Welt ist getunkt in Harmonie.

Ich lese mor­gens auch kei­ne Nach­rich­ten auf dem Han­dy mehr. Vor dem Detox habe ich selbst auf dem Klo Nach­rich­ten gele­sen. Zu allem woll­te ich mich ver­hal­ten, eine pro­fun­de Mei­nung haben: zu Prinz Har­ry, den Kli­ma­pro­tes­ten, der Iden­ti­täts­po­li­tik, der Lage in der Ost­ukrai­ne, zum Frack­ing, zur Infla­ti­on, zur Mas­ken­pflicht, zu Her­tha BSC, zum deut­schen Wald. Fragt mich jetzt jemand nach Lüt­zer­ath oder dem neu­en Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter, sage ich: kei­ne Ahnung. Ich mach Detox. Sofort füh­le ich mich mei­nungs­mä­ßig und emo­tio­nal ent­las­tet. Erst war es mir unan­ge­nehm, so als Jour­na­list. Mitt­ler­wei­le den­ke ich: Psy­cho­lo­gisch wird vie­les ein­fa­cher, wenn es einem auch mal egal ist.

Hat man erst mal mit der Ent­gif­tung begon­nen, kommt man schnell auf neue Detox-Ideen. Fahr­rad­klin­gel-Detox: Im Janu­ar wird nie­mand aggres­siv ange­klin­gelt, der kurz und ohne böse Absicht den Fahr­rad­weg blo­ckiert. Oder zu lang­sam fährt.

Alter-Wei­ßer-Mann-Detox: Im Janu­ar schreibt nie­mand die­se öde, aus­ge­lutsch­te, denk­fau­le Formulierung.

Kom­men­tar-Detox: Im Janu­ar wird nichts kom­men­tiert auf Face­book, Twit­ter oder unter jour­na­lis­ti­schen Bei­trä­gen. Statt­des­sen müs­sen alle Deto­xer den Satz ver­in­ner­li­chen: »Dar­über muss ich erst mal nach­den­ken.« Oder: »Ich weiß zu wenig über das The­ma, als dass ich mich sofort öffent­lich äußern möch­te.« Im Febru­ar darf dann wie­der mun­ter drauf­los­ge­meint wer­den. Deutsch­land wäre sofort ein klü­ge­rer Ort, vol­ler Lie­be und mit weni­ger Hass, mit die­sem ein­fa­chen Instru­ment der gesell­schaft­li­chen Entgiftung.

Out­door­ja­cken-Detox: Aus Grün­den, die im Ver­bor­ge­nen lie­gen, schlüp­fen vie­le Deut­sche – auch ich – im Herbst in ein atmungs­ak­ti­ves, was­ser­dich­tes Klei­dungs­stück, wel­ches sie bis zum Früh­jahr nicht mehr ver­las­sen: die Out­door­ja­cke. Die Out­door­ja­cke ist nun kei­ne Jacke, son­dern viel­mehr ein Behält­nis. Aus Gore-Tex. Dazu wer­den, völ­lig gen­der­neu­tral, gern baum­rin­den­far­be­ne Trek­king­schu­he kom­bi­niert. War­um? Weil es prak­tisch ist. Aber wie viel schö­ner wären die deut­schen Innen­städ­te, vol­ler Anmut und Ele­ganz, wür­de man im Janu­ar auf das Tra­gen einer Out­door­ja­cke verzichten?

Der bes­te Tag im Janu­ar ist für mich der 1. Janu­ar. An die­sem Tag hat mein Vater Geburts­tag. Er ist jetzt 89 Jah­re alt. Wir haben gefei­ert. Er ist leben­dig und ziem­lich gesund, er hielt mei­ne Mut­ter im Arm, klein und mager wie ein Spatz, sie ist 86 Jah­re alt. Es ist ein Wun­der. Der Janu­ar wird immer auch tröst­lich sein, solan­ge ich das erle­ben darf.