Ich bin 50. Ja, mein Gott. Wie ich mich damit füh­le? Vor ein paar Tagen war ich auf Mal­lor­ca. Eines Abends saß ein Kater vor unse­rem Feri­en­haus. Der Kater war schreck­lich dürr und fauch­te, wenn man sich ihm näher­te. Wir nann­ten ihn ­»Fauchi« und gaben ihm eine Büch­se Thun­fisch. Am nächs­ten Tag saß Fauchi wie­der da, zusam­men mit einem Kater, dem die Zun­gen­spit­ze aus der Schnau­ze hing. Wir nann­ten ihn »Zun­ge« und kauf­ten mehr Thun­fisch. Am fol­gen­den Tag kamen Fauchi und Zun­ge in Beglei­tung einer zer­rupf­ten schwar­zen Kat­ze und eines breit­schä­del­i­gen Katers, den wir »Stier­na­cken« nann­ten. Um Kämp­fe zu ver­mei­den, ser­vier­ten wir den Thun­fisch für Fauchi, Zun­ge, Stier­na­cken und die Schwar­ze auf sepa­ra­ten Tel­ler­chen, wir flitz­ten ins Haus rein und raus wie Kellner.

So ver­gin­gen unse­re Urlaubs­aben­de. Sinn­stif­ten­de Betä­ti­gun­gen sind ja in den mitt­le­ren Jah­ren unge­mein wich­tig. Nur manch­mal dach­te ich, dass ich mich in eine selt­sa­me Rich­tung ent­wi­ckeln könn­te. Ein­mal sah ich vor einem Café einen alten Mann sit­zen, umringt von eini­gen Stra­ßen­kat­zen. Aus sei­nen Hosen­ta­schen ließ der alte Mann immer etwas Tro­cken­fut­ter rie­seln. Ist das mei­ne Zukunft?

Zurück in Deutsch­land las ich ein Inter­view mit Til Schwei­ger, dem Schau­spie­ler. Schwei­ger wird bald 60 Jah­re alt. Aber er füh­le sich, so Schwei­ger, immer noch »genau­so reif bezie­hungs­wei­se unreif wie mit 20«.

Das höre ich jetzt stän­dig. Irgend­je­mand wird 50, 60, 70 und sagt garan­tiert: Ich füh­le mich viel jün­ger. Nur wie jung genau – das variiert.

Les­lie Man­do­ki, der Ex-Sän­ger von Dschin­gis Khan, sag­te mit Blick auf sei­nen 70. Geburts­tag, er füh­le sich wie 30. Als der Mode­ma­cher Harald Glööck­ler im Mai 57 wur­de, schnitt er sei­ne Geburts­tags­tor­te an mit den Wor­ten: »Heu­te fühl ich mich wie 20.« Und die Schrift­stel­le­rin Cor­ne­lia Fun­ke sag­te mit fast 50 Jah­ren in einem Inter­view: »Mein gefühl­tes Alter ist 10.«

Das Aus­ein­an­der­drif­ten von ech­tem und gefühl­tem Alter scheint ein weit­ver­brei­te­tes Phä­no­men zu sein. Qua­si: deut­scher Gefühls­main­stream. Ich ken­ne zwar kei­nen Zehn­jäh­ri­gen, der sagen wür­de: Mein gefühl­tes Alter ist 50. Aber ich ken­ne mei­nen Vater, den ich vor ein paar Jah­ren im Kran­ken­haus besuch­te. Er war schon 82, wir gin­gen lang­sam über die Sta­ti­on, er stütz­te sich an mei­nem Arm und sag­te: »Schau dir das an. Nur alte Leu­te hier!«

Ich weiß nicht, wie Til Schwei­ger, mein Vater und alle ande­ren das machen. Gern wür­de ich mich auch viel jün­ger füh­len, als ich bin. Jung – das klingt so hübsch. Und das riecht so gut. Aber dann ste­he ich nach einer alko­hol­ge­tränk­ten Nacht vor dem Spie­gel, betrach­te mein zer­furch­tes Ant­litz und den­ke: Alt­bau bleibt Alt­bau, mein Freund.

Frü­her, mit 20, wäre ich nie nach Mal­lor­ca gefah­ren. Ich woll­te Aben­teu­er. Heu­te den­ke ich: Klar, Aben­teu­er. Pri­ma. Aber kein Aben­teu­er – das ist auch schön.

Oder ich gehe jog­gen. Das Rum­ge­lau­fe ist gesund, aber ein unfass­bar öder Sport. Manch­mal über­ho­len mich jun­ge Men­schen, wäh­rend ich auf dem Sport­platz ver­bis­sen mei­ne Run­den zie­he. Mit jun­gen Men­schen mei­ne ich: Mäd­chen von viel­leicht zwölf Jah­ren. Ich neh­me dann, tief gekränkt, stamp­fend die Ver­fol­gung auf. Es ist albern, natür­lich. Wür­de­los. Da hilft es auch nicht, wenn ich den­ke: Gefühlt bin ich viel jün­ger. Gefühlt könn­te ich euch locker in Grund und Boden laufen!

Gern bin ich jetzt im Gar­ten und gärt­ne­re vor mich hin. Im Früh­jahr den­ke ich: Ach, sieh an, wie hübsch der Flie­der blüht. Ich rufe mei­ner Frau zu: »Schatz, meinst du, ich kann schon die Kar­tof­feln stecken?«

Wie zur Höl­le soll ich mich da jün­ger füh­len, als ich bin?

Musi­ka­lisch bin ich inter­es­siert. Aber das neue Zeug trifft mich nicht mehr rich­tig ins Herz. Ich höre Bil­lie Eilish und den­ke: Ja, echt schön. Vor ein paar Tagen sah ich dann die alte Ska-Band Mad­ness, lau­ter rund­li­che Ü‑60-Typen, und war zu Trä­nen gerührt, so schön gegroovt hat das, so schön mit Erin­ne­run­gen beladen.

Viel­leicht bin ich jetzt der ein­zi­ge 50-Jäh­ri­ge, der jemals in einem gro­ßen Medi­um öffent­lich bekun­det hat, dass er sich annä­hernd auch wie 50 fühlt. Kann das wirk­lich sein? Muss man da nicht gegen­steu­ern, gefühlspolitisch?

Zukünf­tig soll man sich in Deutsch­land sein Geschlecht auf dem Amt unbü­ro­kra­tisch aus­su­chen kön­nen. Man geht zum Bei­spiel als bio­lo­gi­sche Frau dort­hin und sagt: Ich bin ein Mann. Dann wird man behörd­lich als Mann aner­kannt. Ähn­lich könn­te man es doch auch mit dem Alter machen, oder?

Nicht das bio­lo­gi­sche Alter soll künf­tig zäh­len. Son­dern das gefühl­te. Eine Zeit lang wür­de es schöns­te Ver­wir­rung geben: 70-jäh­ri­ge Män­ner, die sagen, sie sei­en 30-jäh­ri­ge Frau­en. Na und? Die Vor­tei­le über­wie­gen. Sofort wäre Deutsch­land ein Land der Jugend und des Fort­schritts. Die Über­al­te­rung der Gesell­schaft? Abge­schafft. Der Gene­ra­tio­nen­ver­trag? Wei­ter gül­tig. Die Arbeits­welt? Hier­ar­chie­frei und frei­zeit­ori­en­tiert. Die »alten wei­ßen Män­ner«, die alle so ver­ach­ten? Verschwunden.

Also, bis auf einen.

Von Jochen Gutsch