Momen­tan sind Rück­trit­te sehr en vogue. Unser Kolum­nist Maxim Leo bewirbt sich schon mal, falls der Jury-Prä­si­dent der Ber­li­na­le Jere­my Irons sein Amt auf­gibt. (Ber­li­ner Zeitung)

Ber­lin­Falls mich mal irgend­wann jemand fra­gen soll­te, wel­ches Amt ich in mei­nem Leben noch anstre­be, wür­de ich kei­ne Sekun­de zögern und sagen: Jury-Prä­si­dent der Ber­li­na­le. Ich könn­te stän­dig mit wun­der­schö­nen Schau­spie­le­rin­nen über den roten Tep­pich fla­nie­ren, wür­de alle Fil­me umsonst gucken und jeder ver­damm­te Film­fuz­zi wäre nett zu mir, weil ich der Herr des Gol­de­nen Bären bin. Es wäre auch nicht schlimm, wenn ich mal ein­schla­fe, mit­ten in einem fünf­stün­di­gen viet­na­me­si­schen Expe­ri­men­tal­film über die Bedeu­tung der Männ­lich­keit im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert. Prä­si­den­ten dür­fen so was.

Den Gol­de­nen Bären wür­de ich an eine Komö­die ver­ge­ben, falls es so was im Wett­be­werb der Ber­li­na­le über­haupt gibt. Falls nicht, wür­de ich eine Komö­die nach­no­mi­nie­ren, zum Bei­spiel „Love Actual­ly“ mit Hugh Grant und Kei­ra Knight­ley. Klar, der Film ist kei­ne ganz neue Pro­duk­ti­on, aber ich wür­de in mei­ner Preis­be­grün­dung schrei­ben: „In Zei­ten des Brexits, des natio­na­lis­ti­schen Has­ses und der bevor­ste­hen­den öko­lo­gi­schen Kata­stro­phe steht die­ser Film für die ein­zi­ge Chan­ce, die der Mensch­heit noch bleibt, um ihr Über­le­ben zu sichern: die Lie­be.“ Klingt nicht schlecht, oder?

Die­ses Jahr ist der Job des Jury-Prä­si­den­ten lei­der schon ver­ge­ben, an den Schau­spie­ler Jere­my Irons, der vor allem in Deutsch­land sehr kri­tisch gese­hen wird. Irons soll ein Sexist sein. In einem Inter­view hat er mal gesagt, eine Frau kön­ne damit umge­hen, wenn ein Mann sei­ne Hand auf ihren Po lege. Das sei Kom­mu­ni­ka­ti­on. Ich den­ke, das könn­te für einen Rück­tritt reichen.

Rück­trit­te sind ja gera­de total ange­sagt. Alle machen das. Die gera­de ernann­te CDU-Che­fin Anne­gret Kramp-Kar­ren­bau­er, der gera­de ernann­te Her­tha-Trai­ner Jür­gen Klins­mann. Zuvor ging schon der gera­de ernann­te Rowohlt-Ver­le­ger Flo­ri­an Illies. Nicht mal die Män­ner Got­tes hält es noch im Amt. Der Vor­sit­zen­de der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz, der Münch­ner Kar­di­nal Rein­hard Marx, kün­dig­te an, aus Alters­grün­den abzu­tre­ten. Der Mann ist 66, was in Kir­chen­krei­sen eigent­lich als blut­jung gilt. Frü­her star­ben Kar­di­nä­le im Amt, frü­her kann­ten gan­ze Gene­ra­tio­nen nur einen CDU-Vor­sit­zen­den und einen Rowohlt-Ver­le­ger. Und einen Spie­gel-Chef­re­dak­teur und einen Chef des Bun­des­ver­fas­sungs­schut­zes. Und einen Minis­ter­prä­si­den­ten von Nord­rhein-West­fa­len. Ach, früher.

Heu­te ist alles so has­tig, so unver­bind­lich und atem­los gewor­den. Kei­ner hält mehr durch, bringt etwas zu Ende. Aber ganz vie­le wol­len ger­ne mal was aus­pro­bie­ren. Und wenn es dann nicht gleich läuft, wenn es mög­li­cher­wei­se zu anstren­gend wird, dann lässt man es eben schnell wie­der sein. Es scheint so, als sei das gan­ze Land gera­de auf dem Sprung. Viel­leicht soll­te ich auch zurück­tre­ten. Aber wovon? Mein letz­tes Amt hat­te ich 1985 inne, ich war Agi­ta­tor mei­ner FDJ-Grup­pe. Seit­dem bin ich wei­test­ge­hend funktionslos.

Trotz­dem beschäf­tigt mich die Sache. Bei der SPD hat man sich ja dar­an gewöhnt, dass sie mitt­ler­wei­le mehr Vor­sit­zen­de als Mit­glie­der hat. Auch im Fuß­ball­ge­schäft sind schnel­le Rocha­den nicht unüb­lich, wenn­gleich Klins­mann mit zehn Wochen Ver­weil­zeit und einem selbst für sei­ne Ver­hält­nis­se erbärm­li­chen Face­book-Post („HaHo­He – Euer Jür­gen“) neue Maß­stä­be setzt. Aber doch nicht die CDU! Doch nicht die schwar­ze Dame, die zwar immer ein biss­chen muf­fig roch, aber dafür eine Ehr­furcht gebie­ten­de Ahnung von Ewig­keit ver­ström­te. Wenn jetzt selbst da schon das Füh­rungs­per­so­nal schnel­ler wech­selt als die Aus­hil­fen im Bahn­hofs­bis­tro, dann heißt das doch, dass nichts mehr wirk­lich Bestand hat, oder?

Ach so, und falls Jere­my Irons nun auch noch zurück­tre­ten soll­te (ich per­sön­lich hal­te die Vor­wür­fe gegen ihn, nun ja, für sehr gewich­tig), dann stün­de ich bereit und wäre mit Freu­de der Jury-Prä­si­dent der 70. Berlinale.

16.02.2020 – Maxim Leo