Alle Jah­re wie­der: Unser Autor Maxim Leo geht seit Jah­ren zum Film­fes­ti­val, wie es sich für einen cine­as­ti­schen Kos­mo­po­li­ten gehört. (Ber­li­ner Zeitung)

Ber­lin – Vor ein paar Tagen dach­te ich: „Hey, groß­ar­tig, es ist wie­der Ber­li­na­le! Stürz dich ins Getüm­mel, sei ein cine­as­ti­scher Kos­mo­po­lit, inha­lie­re den inter­na­tio­na­len Gla­mour, den Duft der gro­ßen wei­ten Welt!“

Also gut, ganz so war es nicht. Eigent­lich habe ich gedacht: „Schei­ße, schon wie­der Ber­li­na­le? Kann ich da nicht mal ein Jahr aus­set­zen?“ Ich mei­ne, ich habe noch nicht mal die­sen korea­ni­schen Film gese­hen, der den Oscar gewon­nen hat. Und jetzt schon wie­der so vie­le neue Fil­me? Ande­rer­seits, was sagt das über mich, wenn ich die Ber­li­na­le schwän­ze? Ich habe seit dem Mau­er­fall kei­ne ein­zi­ge Ber­li­na­le ver­passt. Ich war immer dabei, habe manch­mal drei, vier Fil­me am Tag gese­hen. Was für ein igno­ran­ter Klein­geist müss­te ich gewor­den sein, um die­se stol­ze Tra­di­ti­on zu verraten?

Ich beschloss, zumin­dest mal ins Pro­gramm zu schau­en. Nach lan­gem Suchen fand ich einen fran­zö­si­schen Film, mit die­ser ent­zü­cken­den blon­den Schau­spie­le­rin und die­sem lus­ti­gen Typen, der in „Ziem­lich bes­te Freun­de“ mit­ge­spielt hat. Der Film soll­te im Ber­li­na­le-Palast lau­fen, roter Tep­pich und so. Ich dach­te: „Per­fekt, da fla­nie­re ich ein biss­chen mit mei­ner Frau Cathe­ri­ne im Schein­wer­fer­licht her­um, wir sehen schnell den Film, trin­ken ein Gläs­chen Sekt. Und wenn spä­ter jemand fragt, dann habe ich ber­li­na­le­mä­ßig auch was zu erzäh­len.“ Aller­dings war der Film dann schon ausverkauft.

Wirt­schafts­kri­sen leich­ter als deut­sche Komödien

Ich such­te wei­ter und stieß auf ein argen­ti­ni­sches Dra­ma, das „auf hei­te­re und zugleich berüh­ren­de Art“ vom Abstieg einer Mit­tel­stands­fa­mi­lie in der Wirt­schafts­kri­se erzähl­te. Na ja, war­um denn nicht, dach­te ich. Hei­ter und berüh­rend, das klingt doch nicht schlecht. Außer­dem mag ich süd­ame­ri­ka­ni­sche Fil­me, sie sind so ent­spannt und ver­spielt. Selbst eine Wirt­schafts­kri­se fühlt sich da oft leich­ter an als zum Bei­spiel eine deut­sche Komö­die. Aller­dings war auch der Film schon ausverkauft.

Um wei­te­ren Ent­täu­schun­gen vor­zu­beu­gen, änder­te ich mei­ne Such­stra­te­gie und schau­te nur noch nach Fil­men, für die es noch Kar­ten gab. Wie zum Bei­spiel die­ses 320 Minu­ten lan­ge japa­ni­sche Epos, das „auf unspek­ta­ku­lä­re, betont ruhi­ge Art erzählt, wie eine Frau zum Begräb­nis ihres Vaters fährt.“ Wobei man da auch ein biss­chen auf­pas­sen muss, das habe ich in drei­ßig Ber­li­na­le-Jah­ren gelernt. Wenn selbst die Ber­li­na­le-Leu­te, die eigent­lich alles irgend­wie auf­re­gend, fas­zi­nie­rend und span­nend fin­den, auf die unspek­ta­ku­lä­re, betont ruhi­ge Art eines Films hin­wei­sen, dann bedeu­tet das über­setzt: „Hey Leu­te, die­sen Film muss­ten wir ins Pro­gramm neh­men, weil wir nicht genug Stof­fe aus Asi­en hat­ten. Wer unter schlim­men Ein­schlaf­pro­ble­men lei­det, dem kann hier gehol­fen wer­den. Für alle ande­ren gilt: Run, For­rest, run!“

Fast erfri­schend: Das femi­nis­ti­sche Kam­mer­spiel aus Bosnien

Es gab auch noch die­sen nor­we­gi­schen Film, in dem sich ein Mann umbringt, weil sei­ne Frau einen Gehirn­tu­mor bekommt. Und es gab einen ira­ni­schen Expe­ri­men­tal­film, der in einer ein­zi­gen Ein­stel­lung das mor­gend­li­che Leben an einer Kreu­zung in Tehe­ran doku­men­tiert. Da wirk­te im direk­ten Ver­gleich das femi­nis­ti­sche Kam­mer­spiel aus Bos­ni­en, das von einer Frau erzählt, die sich mit­hil­fe von zwei Kat­zen aus der erdrü­cken­den Tra­di­ti­on ihrer Fami­lie befreit, schon gera­de­zu erfrischend.

Mei­ne Wahl fiel schließ­lich auf einen rus­si­schen Doku­men­tar­film, in dem der Regis­seur mit­hil­fe von You­Tube-Vide­os ein Psy­cho­gramm der rus­si­schen Gesell­schaft erstell­te. War­um ich mich gera­de für die­sen Film ent­schied? Ach wis­sen Sie, ich ver­las­se mich da kom­plett auf mei­ne Intui­ti­on, nach drei­ßig Jah­ren Ber­li­na­le. Ich saß dann mit mei­ner Frau in einem muf­fi­gen klei­nen Saal im Cubix 7 am Alex­an­der­platz. Es gibt ver­mut­lich kei­nen Ort auf der Welt, an dem man wei­ter vom inter­na­tio­na­len Gla­mour ent­fernt ist. Und was den Film angeht, ich wür­de sagen: Ich bin mal wie­der dabei gewesen.

29.02.2020 – Maxim Leo