Hin­ter­her ist alles immer irgend­wie schö­ner. Unser Autor Maxim Leo über die Nost­al­gie, die Erin­ne­run­gen inne­wohnt – und sei­ne neu gewon­ne­nen Coro­na-Skills. (Ber­li­ner Zeitung)

Ber­lin – Ges­tern schau­te ich mit mei­nen Töch­tern zum 86. Mal den Film „Mei­ne Braut, ihr Vater und ich“. Da wir die Dia­lo­ge mitt­ler­wei­le aus­wen­dig kön­nen, sahen wir ihn dies­mal auf Grie­chisch, mit schwe­di­schen Unter­ti­teln, was den Film noch lus­ti­ger mach­te, vor allem wegen der selt­sam hohen Syn­chron­stim­me des grie­chi­schen Robert De Niro. Eine Sache fiel mir beson­ders auf: Die Leu­te in dem Film ste­hen oft sehr dicht zusam­men, sie neh­men sich stän­dig in die Arme und schüt­teln sich über­trie­ben lan­ge die Hän­de. Ich dach­te: Abge­fah­ren, haben die gar kei­ne Angst?

Bis mir ein­fiel, dass auch ich noch vor sechs Wochen Men­schen umarmt habe. Es war der 13. März, ein Frei­tag, ich hat­te eine Lesung im Rat­haus von Klein­mach­now, zu der wegen der begin­nen­den Virus-Angst nur vier Leu­te kamen. Danach fuhr ich zur Geburts­tags­fei­er mei­ner Freun­din Esther. Wir haben viel getrun­ken, gelacht und getanzt, es war eine selt­sam auf­ge­kratz­te Stim­mung, so als hät­ten wir schon geahnt, dass es einen sol­chen Abend lan­ge nicht mehr geben wird.

Das alles kommt mir jetzt schon so weit weg vor, wie aus einer ande­ren Zeit, aus einer ande­ren Welt. Was vor allem beweist, wel­che unglaub­lich wich­ti­ge Rol­le die Gewöh­nung in unse­rem Leben spielt. Manch­mal den­ke ich, dass unser gan­zes Leben eine ein­zi­ge Gewöh­nung ist. Dass alles das, was wir für unum­stöß­lich und schick­sal­haft hal­ten, letzt­lich nicht mehr als eine lieb­ge­wor­de­ne Rou­ti­ne ist. Was ja bedeu­tet, dass wir auch ohne Kri­se unser Leben jeder­zeit radi­kal ver­än­dern könn­ten. Wenn die Angst vor dem Unbe­kann­ten nicht so groß wäre. Und die Lie­be zu dem, was wir kennen.

Es gibt jetzt vie­le, die sagen, die­se Pan­de­mie wird die Welt ver­än­dern, unser Leben wird nie mehr das­sel­be sein wie zuvor. Das glau­be ich nicht. Weil die Gewöh­nung ja in bei­den Rich­tun­gen funk­tio­niert. In ein paar Wochen schon wer­den wir vie­les von dem ver­ges­sen haben, was uns gera­de so groß und unaus­weich­lich erscheint. Das meis­te von dem, was wir gera­de müh­sam erler­nen, wird im Nebel der Ver­gan­gen­heit ver­blas­sen. Sobald die Lage wie­der eine ande­re ist.

Ich per­sön­lich bin ein lei­den­schaft­li­cher Nost­al­gi­ker, ich traue­re stets dem Ver­gan­ge­nen nach und suh­le mich in der Erin­ne­rung. Völ­lig egal übri­gens, wie unan­ge­nehm das Ver­gan­ge­ne war. Als ich zum Bei­spiel noch in der DDR leb­te, fand ich die­ses Land total bekloppt. Als die DDR dann weg war, fehl­te sie mir.

So ähn­lich könn­te es mit dem Coro­na­vi­rus lau­fen. Es wür­de mich nicht wun­dern, wenn ich auch die­ses Kapi­tel mei­nes Lebens in weh­mü­ti­ger Erin­ne­rung behal­te. Zumal es schon so ein paar Sachen gibt, die ich gera­de gelernt habe und auf die ich ein biss­chen stolz bin. Zum Bei­spiel mei­ne mitt­ler­wei­le recht aus­ge­feil­te Tech­nik, mit dem Ell­bo­gen Türen zu öff­nen. Oder die Idee, den Nagel mei­nes rech­ten Zei­ge­fin­gers nicht mehr zu schnei­den, weil ich so das Touch­pad des Kre­dit­kar­ten­le­sers bedie­nen kann, ohne gefähr­li­chen Haut­kon­takt zu haben.

Oder mei­ne über die Wochen ent­wi­ckel­te Apnoe-Atem­tech­nik, die es mir erlaubt, bis zu einer Minu­te die Luft anzu­hal­ten, wenn jemand neben mir niest. Oder der Tur­bo-Per­sön­lich­keits-Scan, den ich ent­wi­ckelt habe, um ent­ge­gen­kom­men­de Pas­san­ten auf der Stra­ße nach Risi­ko­grup­pen ein­zu­tei­len und mich je nach Lage­ein­schät­zung mehr oder weni­ger zu ent­fer­nen. Oder, nicht zu ver­ges­sen, mei­ne Video-Kon­fe­renz-Skills. Ama­teu­re gucken ja immer auf den Bild­schirm, eit­le Ama­teu­re gucken nur auf sich selbst. Der Pro­fi guckt in die Kame­ra und blickt somit den ande­ren direkt in die Augen.

Was ich immer noch nicht geschafft habe, ist, Abstand zu hal­ten. Ich ste­he zu nahe dran an den Leu­ten. Das war aber auch schon vor Coro­na so. Ich fas­se Men­schen ger­ne an, beson­ders guten Freun­den knei­fe ich manch­mal in den Po. Das fehlt mir eigent­lich am meis­ten, wenn ich so dar­über nachdenke.

26.04.2020 – Maxim Leo