Vor ein paar Tagen schau­te ich durch das Tele­fon­buch mei­nes Han­dys und über­leg­te, wie ich mit dem Tod umge­hen soll. Es gibt eini­ge Tele­fon­num­mern, die Leu­ten gehö­ren, die nicht mehr leben. Wolf­gang, mein Kol­le­ge von der Ber­li­ner Zei­tung. Herr Bier­noth, der Mann, der unse­re Woh­nung putz­te. Und auch Thi­lo. „Thilo/Fliesenleger“ steht in mei­nem Handy.

Thi­lo ist der Freund eines Freun­des. Manch­mal fuh­ren wir zusam­men in den Ski­ur­laub. Vor ein paar Tagen fiel Thi­lo dann ein­fach um. In der Dusche. Herz­in­farkt. Thi­lo war fünf­zig Jah­re alt. Der Tod ist schwer begreif­lich. Das ist ver­mut­lich sein Wesen. Aber am unbe­greif­lichs­ten ist er, wenn er so plötz­lich kommt. Als hät­te sich ein Mensch ein­fach in Luft aufgelöst.

In unse­rer Küche schaue ich jeden Tag ganz auto­ma­tisch auf die Wand, die Thi­lo vor ein paar Mona­ten gefliest hat. Mit­un­ter kommt sie mir jetzt vor wie ein klei­nes Denk­mal. Thi­los Wand. Wahr­schein­lich ist das der Vor­teil eines Hand­wer­kerle­bens: Über­all in Ber­lin und in Bran­den­burg, gibt es Thi­los Wän­de. Etwas, das bleibt. Sogar in der Tür­kei. Thi­lo hat dort die Deut­sche Bot­schaft gefliest. Weiß der Teu­fel, war­um. Anschei­nend haben sie es den tür­ki­schen Flie­sen­le­gern nicht zuge­traut. Dann haben sie Thi­lo ein­ge­flo­gen. Den Flie­sen­le­ger aus Ger­ma­ny. Mis­ter Flie­se himself.

Was bleibt, wenn einer stirbt?

Schlecht ver­leg­te oder kaput­te Flie­sen mach­ten Thi­lo ver­rückt. Er hat­te den Flie­sen­blick, ver­mut­lich eine Berufs­krank­heit. Betrat Thi­lo irgend­wo eine Woh­nung, so erzähl­te er es mir, schau­te er immer zuerst auf die Flie­sen. Manch­mal ging er extra ins Bad, ein­fach „um mal zu gucken“.

Das erin­ner­te mich an mei­nen Vater, den Zahn­arzt, der immer zuerst auf die Zäh­ne schau­te. Saß ich als Kind neben ihm auf dem Sofa, der Fern­se­her lief, dann stöhn­te mein Vater zuwei­len auf und sag­te: „War­um haben sie der armen Frau so eine scheuß­li­che Pro­the­se gegeben?“

Mein Vater konn­te hören, ob eine Pro­the­se rich­tig saß. Bei Inge Mey­sel saß sie anschei­nend nie rich­tig; die „uner­träg­li­chen Schnalz­ge­räu­sche“ mach­ten mei­nen Vater vor dem Fern­se­her verrückt.

Thi­lo mach­ten die drei alten, kaput­ten Boden­flie­sen vor mei­nem Kühl­schrank ver­rückt. Jedes Mal trat er vor­wurfs­voll mit den Fuß drauf, es quietsch­te ein wenig, und Thi­lo sag­te kopf­schüt­telnd: „Mann, ditt muss­te end­lich mal machen las­sen. Ruf mich an!“ Ich rief dann nie an, weil ich die Dring­lich­keit nicht so spür­te wie er – flie­sen­mä­ßig. Spä­ter, dach­te ich. Tja.

Nach­den­ken über den Tod

Alle Toten, die in mei­nem Han­dy ste­cken, habe ich nie gelöscht. Ich brin­ge es ein­fach nicht übers Herz. Und natür­lich steckt auch der kind­li­che Wunsch dahin­ter, dass ich mir den Tod vom Leib hal­te, wenn ich ihn nur gründ­lich igno­rie­re. „Live Fore­ver“ sin­gen Oasis in einem der schöns­ten Pop­songs aller Zei­ten. Manch­mal, wenn ich auf die Tele­fon­num­mer eines Ver­stor­be­nen schaue, den­ke ich hek­tisch: Schnell was machen! Das Leben ist kurz! Aber was soll man machen? Eine Welt­rei­se? Einen Tanz­kurs? Ich bin jetzt 46 Jah­re alt, und die Ein­schlä­ge kom­men näher. Oft ist es der Krebs. Der beschis­se­ne Krebs.

Der ers­te, der starb und noch in mei­nem Han­dy steckt, ist Wolf­gang, mein Report­er­kol­le­ge. Er ging eines Tages aus dem Büro und war ver­wirrt. Er konn­te sich nicht erin­nern, wo sein Auto steht. Ein paar Wochen spä­ter lag er im Kran­ken­haus. Gehirn­tu­mor. Kurz dar­auf war er tot. Immer wenn ich jetzt mein Auto suche und mich müh­sam zu erin­nern ver­su­che, wo ich es geparkt habe, den­ke ich mit­un­ter: So hat es bei Wolf­gang auch angefangen!

Thi­los Flie­sen im Himmel

Der Vor­letz­te, der starb und noch in mei­nem Han­dy steckt, ist Herr Bier­noth, ein Rent­ner aus Neu­kölln, der bei uns zum Put­zen kam. Am Ende stand ich auf sei­ner Beer­di­gung und sah wie eine Frau eine Packung Ziga­ret­ten und eine Fla­sche Bier mit ins Urnen­grab leg­te. „Ditt braucht er jetzt da oben“, sag­te die Frau leise.

Und Thi­lo? Mir gefällt der Gedan­ke, dass er da oben ver­mut­lich erst mal schaut, ob auch alles gut gefliest ist. Im himm­li­schen Bad und so. Und falls irgend­wo eine Flie­se wackelt oder quietscht – das wird kein Spaß, Gott.

11.03.2018 – Jochen-Mar­tin Gutsch