Am Tag des gro­ßen Jubi­lä­ums bin ich im Urlaub. Thai­land. Es ist kei­ne Flucht, nur ein Zufall, aber ich bin doch froh, weit weg zu sein am 30. Jah­res­tag des Mauerfalls.

Ich habe mit dem 9. Novem­ber und den Mau­er­fall-Fei­er­lich­kei­ten schon immer gefrem­delt. Zum ers­ten Jubi­lä­um, 1990, konn­te ich die Fern­seh­bil­der vom Mau­er­fall kaum ertra­gen. Über­all Ost­ler in ver­schos­se­nen Ano­raks, die wie von Sin­nen in den Wes­ten rannten.

Damals wünsch­te ich mir, man könn­te den Mau­er­fall irgend­wie wie­der­ho­len. Und dies­mal schlen­dern wir welt­män­nisch und wür­de­voll über die Gren­ze. Immer noch Ost­ler. Aber eben läs­si­ge Super-Ost­ler. Spä­tes­tens ab Mit­te der 90er-Jah­re wur­de im Herbst dann immer Geschich­te auf­ge­ar­bei­tet. Sta­si, Doping, Aus­län­der­feind­lich­keit, Unrechtsstaat-Debatte.

Manch­mal wur­de den frus­trier­ten Halb­wil­den aus der Zone auch über den trau­ri­gen Kopf gestrei­chelt. Wegen der gan­zen Arbeits­lo­sig­keit. Oder es wur­de poli­tisch gemahnt und geschimpft. Weil der Ost­ler mal wie­der ost­al­gisch war oder unzu­frie­den oder die Demo­kra­tie nicht ver­ste­hen woll­te oder die fal­schen Par­tei­en wählte.

Zum 25. Jubi­lä­um, im Herbst 2014, stand ich dann zufäl­lig in den Pots­da­mer-Platz-Arka­den, einem Ber­li­ner Ein­kaufs­zen­trum, in dem das gesam­te Erd­ge­schoss zu einer Art Mau­er­strei­fen umge­baut war. Ori­gi­nal­ge­treu mit Sta­chel­draht, Geweh­ren, Warn­schil­dern, Armee­fahr­zeu­gen und Sol­da­ten­pup­pen der Natio­na­len Volks­ar­mee. Ich lief hin­durch, als wäre ich in eine Film­ku­lis­se gera­ten. Oder zu Besuch im Mauer-Disneyland.

Das Anstren­gends­te an die­sen Jubi­lä­en ist aber, dass mein Tele­fon klin­gelt, und ich mal wie­der den Osten erklä­ren soll. So als wäre Ost­deutsch­land noch immer irgend­ein fer­nes, frem­des Land, irgend­wo in Zen­tral­afri­ka. Die Unkennt­nis über den Osten und die Ost­deut­schen ist seit 30 Jah­ren nicht klei­ner gewor­den. Leider.

Vor kur­zem frag­te mich ein Kol­le­ge, der bei einer gro­ßen über­re­gio­na­len Zei­tung arbei­tet, wo eigent­lich Dres­den liegt. Im Nor­den oder im Süden? Ich dach­te, es ist ein Witz. Aber es war nur auf­rich­ti­ges Des­in­ter­es­se, eine Ost-Gefühls­la­ge, die ich im Wes­ten, vor allem unter Jour­na­lis­ten, sehr oft ange­trof­fen habe.

Die ande­re war Unver­ständ­nis – die natür­li­che Fol­ge des Des­in­ter­es­ses. Ich arbei­te seit fast 15 Jah­ren als Repor­ter beim Spie­gel, und ich weiß nicht, wie oft ich in die­ser Zeit, wenn im Osten mal wie­der irgend­was schief­lief, den Satz gehört habe: „Jochen, was ist denn da los bei euch im Osten?“ Dann schau­ten mich alle an. Wie einen Afrika-Experten.

Mat­thi­as Platz­eck, der Vor­sit­zen­de der Regie­rungs­kom­mis­si­on zu 30 Jah­re Mau­er­fall, sag­te kürz­lich, dass man der „deutsch-deut­schen Ent­frem­dung“ ent­ge­gen­wir­ken müs­se. Das ist sicher ein schö­ner Ansatz. Er kommt nur etwas spät.

Mir wür­de es ja schon hel­fen, wenn der Mau­er­fall nicht mit jedem Jubi­lä­um noch mehr mit Hel­den­pa­thos auf­ge­la­den und ein­bal­sa­miert wer­den wür­de. Und damit immer mär­chen­haf­ter wird.

Zum 25. Jubi­lä­um war ich auch zu Fei­er­lich­kei­ten in Leip­zig. Im Gewand­haus spra­chen damals der Bun­des­prä­si­dent und ande­re Per­sön­lich­kei­ten. Und alle spra­chen über Frei­heit. Es war der gro­ße Jubi­lä­ums­hit. Frei­heits­wil­le, Frei­heits­wunsch, Frei­heits­kampf, Frei­heits­be­we­gung. Wohin sind die Ost­deut­schen gerannt? In die Freiheit!

In die­sem Augen­blick wünsch­te ich mir, dass ein auf­rech­ter Fest­red­ner ans Mikro­fon tritt und in einer wahr­haf­ti­gen Gedenk­re­de sagt: Sicher, wir Ost­deut­schen dach­ten damals an die Frei­heit. Aber wir dach­ten auch viel ans Ein­kau­fen. An Marl­bo­ro, Jeans, Cor­net­to Nuss und den Golf GTI. Hät­te man im Wes­ten nicht so schön ein­kau­fen kön­nen – viel­leicht wür­de die Mau­er heu­te noch stehen.

22.09.2019 – Jochen-Mar­tin Gutsch