Ich möchte mich beschweren, über meine geliebte Heimatstadt Berlin. Keine Angst, ich werde mich weder zur Parksituation in der Kreuzberger Bergmannstraße, noch zum Stand der deutschen Einheit, noch zur Lage in den Bürgerämtern, noch zu den nervigen, stark tätowierten, nichtdeutsch-sprechenden Kellnern äußern. Selbst den Fakt, dass in meinem Viertel wieder mal drei Geschäfte eröffnet haben, die an meinen Bedürfnissen völlig vorbeigehen (ein Moped-Sharing-Service-Store, eine Praxis für Lebenscoaching und ein Laden, an dessen Fensterscheibe steht: „Gerechtigkeit ist nur ein anderes Wort für Ungerechtigkeit“) werde ich hier nicht weiter erörtern. Obwohl ich eigentlich Lust dazu hätte.
Nein, was mich wirklich bewegt, mich traurig und müde macht, ist der Umstand, dass Berlin mir meine Kinder wegnimmt, mir meine Familie zerreißt, mich zu einem einsamen, gebrochenen Menschen macht. Wie das passieren konnte, möchten Sie wissen? Nun, es hat mit dem Numerus Clausus zu tun, diesem verdammten Notenschnitt, den ein Abiturient vorweisen muss, um in bestimmten Studienfächern an bestimmten Universitäten Aufnahme zu finden. In Berlin hat sich dieser NC in den letzten Jahren in fast allen Studienfächern in kaum mehr erreichbare Höhen aufgeschwungen. Warum? Weil mittlerweile auch noch der letzte westfälische, hessische oder saarländische Provinz-Streber unbedingt in der Hauptstadt studieren will.
Die Sache ist ungerecht, weil die lässigen Berliner Kids durch den Glamour der Metropole natürlich etwas mehr vom Schulstoff abgelenkt sind als der kleine Hubert aus Bergisch Gladbach. Deshalb sind die Noten in Berlin auch nicht ganz so gut, obwohl das Abitur ja so viel einfacher sein soll. Und deshalb musste meine Tochter Anais nun Berlin verlassen, um in der Ferne ihr Studium zu beginnen. Und der kleine Hubert aus Bergisch Gladbach, der ist jetzt eben hier.
Anais wollte Politikwissenschaften studieren. Sie hat ein weitaus besseres Abitur als ich es damals hatte, aber selbst das schützte sie nicht davor, aus ihrer Heimat und ihrer Familie vertrieben zu werden. Denn wer Politikwissenschaften in Berlin studieren möchte, benötigt aktuell einen Abitur-Durchschnitt von 1,1. Während man zum Beispiel in der nicht ganz unrenommierten Fakultät in Heidelberg mit 1,6 einchecken kann.
Ich konnte das erst gar nicht glauben, denn zufällig habe auch ich Politikwissenschaften studiert. In Berlin. Aber zu meiner Zeit gab es für dieses Fach gar keinen NC. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Studientag, ich verließ die U‑Bahn-Station und fragte einen Taxifahrer nach dem Weg zum Institut. Der Taxifahrer gab mir überraschend detailliert Auskunft. Ich sagte: „Sie kennen sich aber gut aus“, woraufhin er antwortete: „Na ja, ich habe da auch studiert.“ Vor ein paar Wochen luden wir fünf Umzugskisten in unser Auto und fuhren mit unserer Tochter sechshundert Kilometer westlich, bis in den Elsass, nach Nancy, wo Anais nun Politikwissenschaften studiert. Wir halfen dabei, ihr WG-Zimmer einzurichten, meine Frau kaufte Lebensmittel ein, die vermutlich für mehrere Jahre reichen werden. Und als wir dann wieder wegfuhren, mit leerem Kofferraum und ohne Kind, da weinte meine Frau und auch ich spürte, wie mein Magen vor Kummer ganz klein wurde.
Im kommenden Frühjahr wird meine Tochter Nadja ihr Abitur ablegen. Sie ist eine exzellente Schülerin, aber sie will Medizin studieren und da muss man in Berlin einen Notenschnitt von 0,9 vorweisen können. Das heißt, wenn sich nicht ganz schnell etwas ändert, werde ich in Kürze auch noch meine zweite Tochter verlieren. Deshalb fordere ich hiermit die sofortige Einführung eines Heim-Bonus für Berliner Schüler. Sagen wir mal 0,5 Notenpunkte. Für Leute aus Spandau 0,6. Ein Volksbegehren wäre toll. Wer ist dabei?
11.10.2019 – Maxim Leo