Ich träu­me gera­de viel und inten­siv, manch­mal bin ich mor­gens rich­tig fer­tig von den Aben­teu­ern der Nacht. Viel­leicht wird das Innen­le­ben auto­ma­tisch dich­ter, je weni­ger da drau­ßen pas­siert. Die Bil­der ver­schwin­den meist beim Auf­wa­chen, nur weni­ge blei­ben im Gedächt­nis haf­ten. Letz­te Nacht zum Bei­spiel träum­te ich von einem Strand, an dem ich lag. Ich sah die Wel­len ans Ufer schla­gen, zwei Frau­en saßen in einem Schlauch­boot, sie tru­gen Atemschutzmasken.

Soweit ich mich erin­ne­re, war das mein ers­ter Traum, in dem Men­schen mit Mas­ken vor­kom­men. Ein Jahr hat es gedau­ert, bis die­se Rea­li­tät in mei­nem See­len­ki­no ange­kom­men ist. Bin ich beson­ders lang­sam, oder brau­chen neue Wirk­lich­kei­ten immer so lan­ge, um in uns ein­zu­drin­gen? Für Traum­for­scher muss die­se Pan­de­mie eine span­nen­de Sache sein, wann hat man schon mal die Situa­ti­on, dass Men­schen auf der gan­zen Welt zeit­gleich und völ­lig über­ra­schend ihr Aus­se­hen ver­än­dern? Dass man die Zeit mes­sen kann, die zwi­schen Traum und Wirk­lich­keit liegt?

Wobei ich mich natür­lich fra­ge, ob es anders­her­um genau­so lan­ge dau­ern wird. Ob ich also ein Jahr nach­dem ich kei­ne Mas­ke mehr tra­gen muss, noch immer von ihr träu­men werde?

Ich frag­te eine befreun­de­te Psy­cho­lo­gin nach mei­nem Traum. Sie sag­te, inter­es­sant sei nicht die Mas­ke, son­dern das Schlauch­boot. Es sei ein Sym­bol der Ver­än­de­rung, wobei das Schlauch­boot zwar sicher wir­ke, in Wahr­heit aber sehr ver­letz­lich sei. „Und die zwei Frau­en?”, frag­te ich. „Männ­li­che Selbst­über­schät­zung”, sag­te die Psychologin.

Inter­es­sant ist die Gewöh­nung, die­se laut­lo­se, unspek­ta­ku­lä­re und doch so mäch­ti­ge Kraft, die uns dabei hilft, irgend­wie mit allem klar­zu­kom­men. Ich bin immer wie­der über­rascht, wie schnell und umfas­send die Gewöh­nung funk­tio­niert, wie sie uns vor­gau­kelt, es sei doch alles nor­mal und okay. Wie unnor­mal es aber eigent­lich ist, fiel mir neu­lich wie­der auf, als ich zur Mit­tags­zeit in einer Piz­ze­ria war und auf mei­ne Mar­ga­ri­ta zum Mit­neh­men war­te­te. Der freund­li­che Piz­za-Bäcker sag­te, ich dür­fe mich wäh­rend des War­tens hin­set­zen. Und dann saß ich da seit lan­gem mal wie­der an einem Tisch, der nicht mein Küchen­tisch war, und war ver­wirrt. Weil mir plötz­lich klar wur­de, wie weit das alles schon weg ist. Die­se Zeit, in der es mög­lich war, eine Piz­za außer­halb der eige­nen Woh­nung an einem Tisch mit Tisch­de­cke, umge­ben von ande­ren Men­schen, zu verspeisen.

Natür­lich weiß ich noch, wie es war. Aber ich den­ke nicht mehr dar­an, ich rech­ne nicht mehr damit, es spielt kei­ne Rol­le mehr. Genau wie das Her­um­sprin­gen in schweiß­feuch­ter Luft, die Bäs­se im Bauch, der Bier­ge­ruch am Pull­over, das Ins-Ohr-Flüs­tern, das in-die-Arme-nehmen.

Das Selt­sa­me ist, es fehlt mir nicht mal beson­ders. Ich habe jetzt einen ande­ren Rhyth­mus, ande­re Höhe­punk­te. Ein­kau­fen gehen, spa­zie­ren gehen, mit Freun­den tele­fo­nie­ren, die Natur bewun­dern. Die­ses eine Jahr hat mich min­des­tens um zwan­zig Jah­re altern lassen.

Und dann sagen jetzt immer alle: Wenn die­se gan­ze Schei­ße vor­bei ist, dann las­sen wir es aber rich­tig kra­chen. Par­ty, Fres­sen, Dro­gen, Exzess. Und ich den­ke: Na klar, aber bit­te lang­sam. Ich müss­te glau­be ich ganz vor­sich­tig wie­der hoch­fah­ren, wie ein Tau­cher, der aus gro­ßer Tie­fe an die Ober­flä­che zurück­kehrt. Erst mal nur mit Freun­den zu Hau­se essen, sich dann schon mal in eine klei­ne Bar vor­wa­gen. Spä­ter sogar in ein rich­ti­ges Restau­rant. Und nach ein paar Wochen ins Thea­ter, erst mal nur Kam­mer­spie­le. Dann in die Oper. Kann sich das irgend­je­mand gera­de vor­stel­len? In einem Saal mit mehr als tau­send Men­schen zu sit­zen und kei­ne Angst zu haben?

Na ja, bis dahin bleibt noch ein biss­chen Zeit. Am Wochen­en­de soll die Son­ne schei­nen. Viel­leicht gehen wir ein biss­chen Spazieren

15.02.2021 – Maxim Leo