Mei­ne Mut­ter erzählte mir am Tele­fon, dass sie jetzt geimpft wur­de. Mei­ne Mut­ter ist 84. Mein Vater ist 87 und soll in Kürze zum zwei­ten Mal geimpft wer­den. Damit wäre er wohl einer der ers­ten Deut­schen mit ech­tem Coro­na-Voll­impf­schutz. Eine Art Pionier.

Natürlich war ich froh. Aber auch ein biss­chen nei­disch. Das Alter hat nur Nach­tei­le, ja? Manch­mal ver­su­che ich mir vor­zu­stel­len, wie es wohl ist, wenn mir irgend­wann, also 2022 oder 2023, ein „Impf­an­ge­bot“ gemacht wird. So nennt es die Kanz­le­rin, was ich sprach­lich sehr süß finde.

Selbstverständlich wer­de ich das Impf­an­ge­bot anneh­men. Viel­leicht habe ich ja, im Jah­re 2022 oder 2023, dann sogar eine Aus­wahl im Impf­an­ge­bot. Für wel­chen Impf­stoff würde ich mich wohl entscheiden?

Von Biontech aus Mainz kommt ja der gute, deut­sche Impf­stoff und ein ech­ter Patri­ot impft natio­nal. Oder doch Moder­na? Oder Astra­ze­ne­ca? Gin­ge es nach dem Namen, würde ich mich sofort für „Sput­nik V“ aus Russ­land ent­schei­den. Ich mei­ne: SO nennt man einen Impf­stoff! Und nicht Moder­na, wie ein que­er-vegan-femi­nis­ti­sches Frau­en­ca­fé in Kreuz­berg oder Astra­ze­ne­ca, was klingt wie die Wer­bung für den neu­en „Opel Astrazeneca“.

Als „Sput­nik V“ im Som­mer ver­gan­ge­nen Jah­res auf den Markt kam, wur­de in den Medi­en viel gewarnt und gespot­tet. Von einer „Mogel­pa­ckung“ war die Rede. Von „Mani­pu­la­tio­nen“ bei den For­schungs­er­geb­nis­sen, Hin­wei­se auf „gra­vie­ren­de Neben­wir­kun­gen“ wur­den ver­mu­tet und in der „Ham­bur­ger Mor­gen­post“ schrieb ein Jour­na­list unter der Überschrift „Putin spielt rus­si­sches Rou­lette mit unse­rer Gesund­heit!“ die Zei­len: „Aus­ge­rech­net sein rückständiges Russ­land, das außer bei tod­brin­gen­der Waf­fen­tech­nik tech­nisch und wis­sen­schaft­lich abgehängt ist, will den ers­ten funk­tio­nie­ren­den, zulassungsfähigen Impf­stoff gegen das Coro­na­vi­rus ent­wi­ckelt haben…“

Nun, anschei­nend haben die Rus­sen genau das gemacht. Nach einer Stu­die hat „Sput­nik V“ eine Wirk­sam­keit von 91,6 Pro­zent. Er ist zudem bil­li­ger als ande­re Impf­stof­fe, er ist auch ein­fa­cher zu lagern. Die EU zeigt jetzt Inter­es­se an „Sput­nik V“, die Bun­des­re­gie­rung auch. Das wäre natürlich eine hübsche Poin­te: Russ­land ret­tet Deutsch­land aus Impf-Dilemma.

Ich habe kei­ne Ahnung von Impf­stof­fen. Ich bin kein Wis­sen­schaft­ler. Ich weiß nicht, ob „Sput­nik V“ etwas taugt. Ich fin­de es nur erstaun­lich, wie lan­ge der Kal­te Krieg noch anhält, obwohl er eigent­lich seit fast 30 Jah­ren been­det ist. Von Hel­mut Schmidt stamm­te der Satz: Die Sowjet­uni­on sei eine Art „Ober­vol­ta mit Atom­ra­ke­ten“. An die­sem abschätzigem Blick des Wes­tens hat sich nicht viel geändert. Den Rus­sen traut man grundsätzlich erst­mal alles zu – vor allem das Schlechte.

Hun­dert Mil­lio­nen Impf­do­sen bie­tet Russ­land der impf­stoff­ar­men EU jetzt an. Sozu­sa­gen: Mit Liebesgrüßen aus Ober­vol­ta! Das könnte bald lus­ti­ge Sze­nen geben in deut­schen Impf­zen­tren. Unter einem Zei­tungs­ar­ti­kel über den rus­si­schen Impf­stoff las ich kürzlich eine Viel­zahl von Leser-Kom­men­ta­ren, die so ängstlich, hasserfüllt und gest­rig klan­gen, als stünden, wie Udo Lin­den­berg einst sang, „die Rus­sen in 20 Minu­ten auf dem Kurfürstendamm“. Ein Leser schrieb: „Lie­ber tot, als rot!“ Ein ande­rer: „Scha­de, dass es kei­ne Wahlmöglichkeiten beim Impf­stoff gibt. Sonst könnte man Sput­nik allen anbie­ten, die auch sonst Moskau-hörig sind.“

In der Fern­seh­se­rie „Cha­ri­té“, die ich gera­de sehe, gibt es eine Sze­ne, in der ein Mann aus West-Ber­lin sein kran­kes Kind kurz vor dem Mau­er­bau in das Ost-Kran­ken­haus bringt. Das Kind hat Kinderlähmung – eine Krank­heit, die im Osten damals kaum noch auf­trat. Dank eines sowje­ti­schen Impf­stof­fes. Als die Charité-Ärztin den West-Ber­li­ner auf den Impf­stoff hin­weist, sagt er: „Das ist doch nur sowje­ti­sche Propaganda!“
Klingt fast wie heu­te, 2021.

07.02.2021 – Jochen-Mar­tin Gutsch