Im Novem­ber 2000 schick­te mich die Ber­li­ner Zei­tung nach Sach­sen, um über eine Geschich­te zu berich­ten, die gera­de über­all in den Medi­en war: Im Schwimm­bad der Stadt Seb­nitz hat­ten Neo­na­zis einen klei­nen Jun­gen ertränkt, hieß es.

Ich ras­te über die Auto­bahn nach Sach­sen und hat­te Schiss. Rie­sen­schiss. Es war mein ers­ter Repor­ter­job, und in mei­nem Kopf war nur ein Gedan­ke: Ich darf es nicht versauen!

In Seb­nitz saß ich dann, zusam­men mit einem Hau­fen ande­rer Repor­ter, im Wohn­zim­mer der Mut­ter des Jun­gen. Sie brach­te Kaf­fee und erzähl­te frei­mü­tig über ihren ermor­de­ten sechs­jäh­ri­gen Sohn, ihren Engel, des­sen Lieb­lings­satz von Mahat­ma Gan­dhi stamm­te, wie die Mut­ter immer wie­der betonte.

Von Gan­dhi? In mei­nen Text schrieb ich dann, ganz zart, einen ers­ten Zwei­fel an der Geschich­te vom ermor­de­ten Sohn hin­ein. Einen Tag spä­ter, mei­ne Sto­ry war gera­de erschie­nen, wur­de ich in Ber­lin vom Chef­re­dak­teur als „Spür­na­se“ beglück­wünscht. Spür­na­se? Es stell­te sich bald her­aus, dass es den Nazi­mord von Seb­nitz nie gege­ben hat­te. Die Mut­ter hat­te ihn erfun­den. So begann mei­ne Kar­rie­re als Repor­ter – mit einem Skandal.

Die Rea­li­tät ist oft recht banal

Heu­te bin ich Repor­ter beim Spie­gel. Mein Kol­le­ge Claas Relo­ti­us hat dort jah­re­lang Geschich­ten gefälscht. Mein Freund Juan Moreno hat das gera­de auf­ge­deckt. Claas Relo­ti­us sagt, es war die „Angst vor dem Schei­tern“, die ihn zu den Fäl­schun­gen trieb. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Ich bin seit 18 Jah­ren als Repor­ter unter­wegs, aber die Angst, die ich damals auf der Fahrt nach Seb­nitz spür­te, hat mich eigent­lich nie ver­las­sen. Klappt die Recher­che? Reicht es für eine gute Geschich­te? Bin ich ein schlech­ter Repor­ter, wenn ich sagen muss: Ich bin an der Sto­ry gescheitert?

Es gibt einen Hau­fen Repor­ter­weis­hei­ten. Däm­li­che Kli­schee­sprü­che. Einer lau­tet: Den Text „mit einem Erd­be­ben begin­nen und dann lang­sam stei­gern“. Ich habe als Repor­ter sehr sel­ten ein Erd­be­ben gefun­den. Meist ist die Rea­li­tät, die wir beschrei­ben sol­len, recht banal. All­tag. Unspektakulär.

Ein guter Repor­ter aber, so lau­tet ein wei­te­res Kli­schee, kann natür­lich aus allem eine Geschich­te machen. Der ame­ri­ka­ni­sche Jour­na­list Gene Wein­gar­ten hat mal dar­über geschrie­ben, wie er, um die­se Maxi­me zu bewei­sen, den völ­lig unbe­kann­ten Ort Savoon­ga in Alas­ka besuch­te. Ein Nest im Nir­gend­wo. Nur Eis und Schnee.

Natür­lich kam eine groß­ar­ti­ge Repor­ter-Geschich­te her­aus. Was sonst?

Der gute Reporter

Mein Repor­ter­ge­fühl, das mit den Jah­ren immer stär­ker wird, ist, dass ich in einem sehr ver­mes­se­nen Beruf arbei­te. Man fliegt irgend­wo­hin, taucht kurz in das Leben ande­rer Men­schen ein, manch­mal nur für ein paar Stun­den. Und zuwei­len füh­le ich mich wie jemand, der über ein Leben schreibt und ger­ne auch rich­tet, das er gera­de mal gestreift hat.

Mein Kol­le­ge Claas Relo­ti­us hat vie­le Jour­na­lis­ten­prei­se gewon­nen. Eine Jury schrieb: sei­ne „Repor­ta­gen sind unglaub­lich detail­liert aus­re­cher­chiert und ein­dring­lich geschil­dert und fast schon als Lite­ra­tur zu bezeich­nen“. Denn das soll der gute Repor­ter ja auch leis­ten: fast Lite­ra­tur schrei­ben. Es gilt: Recher­che an einem fins­te­ren Ort plus unend­lich trau­ri­ge Geschich­te plus kein Humor plus Lite­ra­ten­sound = Journalistenpreis.

Als jun­ger Repor­ter habe ich schnell einen Preis gewon­nen. Die Jury schrieb: „Gutsch … deckt Wider­sprü­che auf, schil­dert poli­ti­sche Ritua­le und spürt über­all die Behar­rungs­kräf­te der Repu­blik.“ Das klingt toll. Nach einem Repor­ter wie aus dem Bilderbuch.

Aber ich kann mich an einen ner­vö­sen Typen erin­nern, der ver­such­te, nicht zu scheitern.

23.12.2018 – Jochen-Mar­tin Gutsch