Ich hat­te eine Lesung in Neu­bran­den­burg, das man wegen sei­ner expo­nier­ten Lage am Tol­len­se­see auch das Genf von Meck­len­burg Vor­pom­mern nennt. Ich war in einem Hotel direkt am See unter­ge­bracht, vom Früh­stücks­raum aus sah ich die Son­ne über dem Was­ser auf­ge­hen, das Schilf färb­te sich rot, ein paar Schwä­ne glit­ten vor­bei. Ich wäre ger­ne noch ein wenig geblie­ben, aber mein Zug fuhr um 9.31 Uhr.

Um 9.20 Uhr betrat ich die Bahn­hofs­hal­le, an der Anzei­ge­ta­fel stand, der Zug wür­de fünf­zehn Minu­ten Ver­spä­tung haben. Da es zwar son­nig, aber auch kalt war, war­te­te ich in der Bahn­hofs­hal­le und betrat um 9.40 Uhr den Bahn­steig, der völ­lig leer war. Ein vor­bei­ei­len­der Schaff­ner rief, der Zug sei bereits abge­fah­ren – pünkt­lich um 9.31 Uhr.

Wütend ging ich durch die lan­ge Unter­füh­rung ins Bahn­hofs­ge­bäu­de zurück. Ich frag­te die Frau im Rei­se­zen­trum, war­um denn nie­mand gesagt habe, dass der Zug nach Ber­lin doch kei­ne Ver­spä­tung hat. Die Frau sah mich gelang­weilt an. Sie sag­te: „Ach, die Anzei­ge­ta­fel, das stimmt doch nie, was da dran­steht.“ Es klang so, als wüss­te das hier jeder Depp. Als wür­de seit dem 18. Jahr­hun­dert jede Mut­ter in Neu­bran­den­burg ihren Kin­dern mehr­mals am Tag ein­bläu­en: „Und ihr wisst, was an der Anzei­ge­ta­fel am Bahn­hof steht, das stimmt nicht!“

Dumm sind doch nur die, die den­sel­ben Feh­ler zwei Mal machen

Der nächs­te Zug fuhr um 10.31 Uhr. Ich ging einen Kaf­fee trin­ken und betrat um 10.20 Uhr erneut die Bahn­hofs­hal­le. An der Anzei­ge­ta­fel stand, mein Zug wür­de fünf­zehn Minu­ten Ver­spä­tung haben. Mir war klar: Dies­mal las­se ich mich nicht ins Bocks­horn jagen. Dumm sind doch nur die, die den­sel­ben Feh­ler zwei Mal machen. Schnurs­traks lief ich durch die Unter­füh­rung zum Bahn­steig, stell­te mich in den eisi­gen Wind und war­te­te. Mir taten die Leu­te leid, die jetzt mög­li­cher­wei­se in der Bahn­hofs­hal­le auf den angeb­lich ver­spä­te­ten Zug war­te­ten. Aber so ist das Leben nun mal, die einen wis­sen wie es läuft, die ande­ren nicht.

Nach zehn Minu­ten in der Käl­te sprang die Anzei­ge­ta­fel um, es wur­de eine Ver­spä­tung von drei­ßig Minu­ten bekannt gege­ben. Was soll­te ich jetzt tun? Außer mir war nie­mand auf dem Bahn­steig, trotz­dem zöger­te ich, rein­zu­ge­hen, weil ich fürch­te­te, der Zug wür­de genau in die­sem Moment am Gleis ein­fah­ren. Wei­te­re zwan­zig Minu­ten spä­ter sprang die Anzei­ge­ta­fel erneut um. „Zug fällt aus“, stand dort nun geschrieben.

Ich lief zum Bahn­hofs­ge­bäu­de zurück, bebend vor Wut. Die Frau sah mich noch eine Spur gelang­weil­ter an. Sie sag­te: „Es wur­de doch ange­zeigt, dass der Zug Ver­spä­tung hat.“

Die Son­ne im Gesicht, den Wein im Kopf

Ich tau­mel­te nach drau­ßen und schrieb mei­ner Frau eine SMS: „Sit­ze in Neu­bran­den­burg fest, Zukunft unge­wiss.“ Ich fühl­te mich hilf­los, ernied­rigt und stapf­te erzürnt durch die Stra­ßen, bis ich plötz­lich dach­te: Egal, ich gehe jetzt zurück zum See.

Der lag glit­zernd in der Son­ne. Ich ging am Ufer ent­lang, atme­te die fri­sche, kal­te Luft, setz­te mich auf einen Steg und öff­ne­te die Weiß­wein-Fla­sche, die mir die Buch­händ­le­rin nach der Lesung geschenkt hat­te. Ich spür­te die Son­ne in mei­nem Gesicht, den Wein in mei­nem Kopf.

Es war herr­lich. Spä­ter schlen­der­te ich noch ein wenig durch die Alt­stadt, wo es erstaun­lich vie­le Glüh­wein­stän­de gab. Nach zwei Glä­sern wirk­te die mit­tel­al­ter­li­che Stadt­mau­er sehr impo­sant. War­um um alles in der Welt habe ich die gan­zen Jah­re immer erst abends mit dem Trin­ken angefangen?

Als die Son­ne unter­ging, lief ich zum Bahn­hof, Ruhe im Kopf und Frie­den im Her­zen. Es war mir egal, wann der Zug hier ein­tref­fen wür­de. Da kam der Zug. Ich stieg ein, sah die Stadt hin­ter den schmut­zi­gen Wagen­fens­tern ver­schwin­den, und dach­te: Dan­ke, Deut­sche Bahn, für die­sen wun­der­ba­ren Tag!

Bis ich merk­te, dass der Zug nicht nach Ber­lin, son­dern nach Stral­sund fuhr.

27.01.2019 – Maxim Leo