Mamie war die Groß­mutter mei­ner Frau, sie wur­de 101 Jah­re alt und trug bis zu ihrem Tod eine wei­ße Per­len­ket­te, hoch­ha­cki­ge Schu­he und Röcke, die knapp über dem Knie ende­ten. Sie wohn­te in Paris, in der obers­ten Eta­ge eines Hau­ses, das den Fried­hof Mont­par­nas­se über­rag­te, auf dem ihr Ehe­mann vie­le Jah­re zuvor begra­ben wor­den war. Als es ihr am Ende ihres Lebens nicht mehr so gut ging, blick­te sie manch­mal von ihrem Schlaf­zim­mer­fens­ter auf den Fried­hof hin­un­ter und mur­mel­te, wie sehr sie sich dar­auf freue, schon bald neben ihrem Mann zu liegen.

Mamie war eine gläu­bi­ge Frau, wes­halb ihr der Tod kei­ne Angst mach­te. Vor allem glaub­te Mamie an die Lie­be, die ihr das Wich­tigs­te im Leben war. „Lie­ben und geliebt wer­den, nur dar­um geht es, Kin­der“, pfleg­te sie immer und immer wie­der zu sagen. Sie wirk­te dabei so beschwingt und glück­lich, dass eigent­lich nie­mand an ihren Wor­ten zwei­feln konnte.

Kost­ba­re Erinnerungen

Sie hat­te ein Haus in Süd­frank­reich am Meer. Eine schma­le Stra­ße führ­te in Ser­pen­ti­nen zu einer Anhö­he, auf der Pini­en stan­den, die bestimmt noch älter waren als Mamie, und deren Harz im Som­mer süß nach Feri­en duftete.

Wir waren oft in die­sem Haus und an einem August­abend vor 22 Jah­ren frag­te ich mei­ne Frau dort, ob sie mich hei­ra­ten will. Ich selbst war von die­ser Fra­ge damals über­rasch­ter als mei­ne Frau, weil ich Hei­ra­ten eigent­lich doof fand. Ver­mut­lich war es der Ein­fluss von Mamie und ihrer Liebesbotschaft.

Vor drei Jah­ren starb Mamie und vor ein paar Mona­ten wur­de ihr Haus am Meer ver­kauft. Wir wur­den gefragt, ob wir etwas aus dem Haus haben wol­len und mei­ne Frau wünsch­te sich den wei­ßen, run­den Gar­ten­tisch, an dem Mamie immer mor­gens in ihrem Bade­man­tel saß, ihren Früh­stücks­kaf­fee trank und uns, die wir meis­tens spä­ter auf­wach­ten als sie, mit Crois­sants vollstopfte.

End­gül­ti­ger Abschied

In die­sen Herbst­fe­ri­en nun sind wir in den Süden gefah­ren, um den guss­ei­ser­nen Tisch und die dazu­ge­hö­ri­gen vier Stüh­le nach Ber­lin zu holen. Es war eine Pil­ger­fahrt, eine Erin­ne­rungs­rei­se. Wir fuh­ren zum letz­ten Mal die schma­le Ser­pen­ti­nen-Stra­ße zum Haus hin­auf. Es weh­te ein küh­ler Novem­ber­wind, die Pini­en waren gelb, das Meer lag hin­ter einer Nebelwand.

Wir luden den Tisch ein, der viel klei­ner war als in unse­rer Erin­ne­rung. Außer­dem wackel­te er und hat­te Rost­fle­cken, aber all das war egal, weil die­ser Tisch ja längst etwas ganz ande­res gewor­den war. Als wir den Hügel wie­der hin­un­ter­fuh­ren, hat­te ich das Gefühl, als hät­ten wir erst jetzt wirk­lich Abschied von Mamie genom­men. Jetzt, da wir die­se guss­ei­ser­ne Erin­ne­rung bei uns trugen.

Ein biss­chen Glück von früher

Auf der Rück­fahrt mach­ten wir mehr­mals Sta­ti­on, über­nach­te­ten bei Freun­den und Ver­wand­ten, die wir schon lan­ge nicht gese­hen hat­ten. Wir erzähl­ten von Mamie und ihrem wei­ßen Gar­ten­tisch, von ihrem Glau­ben an die Lie­be, die Fami­lie und das Gute in der Welt. Dabei kam es mir vor, als wäre das alles gar nicht mehr so sicher und klar, als wäre die­se Welt in den letz­ten paar Jah­ren eine ande­re gewor­den. Als hät­te Mamies Bot­schaft mit ihrem Ver­schwin­den ihren Sinn ein­ge­büßt. Es kann aber auch sein, dass einem die Ver­gan­gen­heit immer wär­mer und ver­trau­ter vor­kommt als die Gegen­wart, das scheint ein mensch­li­ches Natur­ge­setz zu sein.

Kurz vor Ber­lin sag­te mei­ne Frau, dass wir den Tisch auf kei­nen Fall drau­ßen ste­hen las­sen dür­fen, weil er sonst bald kom­plett durch­ge­ros­tet ist. Ich wand­te ein, dass es doch immer­hin ein Gar­ten­tisch sei, aber der stra­fen­de Blick mei­ner Frau belehr­te mich eines Besseren.

Der Tisch steht jetzt in unse­rem Kel­ler, dort hat er es tro­cken und warm. Wenn der Früh­ling kommt, wer­den wir ihn hin­aus in die ers­te Son­ne tra­gen. Mit ein biss­chen Glück wird er uns Mamies Welt zurückbringen.

04.11.2018 – Jochen-Mar­tin Gutsch