Kos­mi­sche Dra­chen, stil­le Sta­di­en, Gold­staub: Gutsch erweist sei­nem Kind­heits­idol Mara­dona die letz­te Ehre. (Ber­li­ner Zeitung)

Ber­lin – Ich weiß nicht, wie oft ich mir in den ver­gan­ge­nen Tagen die­ses Tor ange­se­hen habe. 22. Juni 1986, Azte­ken­sta­di­on. Vier­tel­fi­na­le Eng­land gegen Argen­ti­ni­en, die 55. Minu­te. Mara­dona. Einer gegen alle. Dazu der berühmte Radio-Kom­men­tar von Vic­tor Hugo Mora­les, ein fast zweiminütiges Schrei­en, Stau­nen, Fle­hen. „Genie, Genie, Genie! (…) Ich möchte wei­nen, hei­li­ger Gott! Lang lebe der Fuß­ball! (…) Unglaub­li­cher Lauf von Mara­dona, der Bes­te aller Zei­ten! Kos­mi­scher Dra­che! Von wel­chem Pla­ne­ten bist du gekommen?“

Man muss es im Ori­gi­nal, auf Spa­nisch hören. Auch wenn man wie ich gar kein Spa­nisch spricht. Man fühlt die­ses Tor. Den Zau­ber. Kos­mi­scher Dra­che! Ich war damals 14 Jah­re alt und zit­ter­te in Ost-Ber­lin vor unse­rem neu­en Color­mat-Farb­fern­se­her mit den Argen­ti­ni­ern. Es ist bis heu­te mei­ne schönste Fuß­ball-WM, weil ich ein Kind war, der Som­mer lang und ich mich nach einem Hel­den sehn­te. Die­go Arman­do Mara­dona traf mich mit­ten ins Herz.

Und die Deut­schen? Sie hie­ßen Hans-Peter Brie­gel oder Karl­heinz Förster, und so sahen sie auch aus. Im Fina­le wur­de ich fast verrückt, bis Mara­dona end­lich die­sen einen Pass auf Bur­rucha­ga spiel­te. „Toni, halt den Ball!“, rief ZDF-Kom­men­ta­tor Rolf Kramer.

Zum Glück hielt Toni ihn nicht.

Am nächsten Tag mal­te ich mit mei­nem DDR-Schul­mal­kas­ten die argen­ti­ni­sche Flag­ge auf ein A4-Blatt, schrieb „Vamos Argen­ti­nia!“ drauf und hängte sie über mein Bett. Hätte man mir damals die argen­ti­ni­sche Staatsbürgerschaft ange­bo­ten, ich hätte sie ange­nom­men. Auch wenn das Land, wie ich später erfuhr, „Argen­ti­na“ heißt.

Heu­te kann man jeden Tag irgend­wo Fuß­ball sehen. Alle Spie­le der Welt. Es gibt Inter­net, Pay-TV, Fuß­ball ist eine stets verfügbare Ware. Im WM-Som­mer 1986 gab es nur die Fern­seh­sen­der DDR 1 und DDR 2 und eine Hand­voll West­sen­der. Wenn man ein Spiel ver­pass­te, dann war es ver­passt. Womöglich für immer. Ich sam­mel­te jeden Schnip­sel über Mara­dona, den ich krie­gen konn­te. Ver­gilb­te, fran­sig aus­ge­schnit­te­ne DDR-Zei­tungs­ar­ti­kel hin­gen an den Wänden mei­nes Kin­der­zim­mers. „Scheuß­lich“, sag­te mei­ne Mut­ter. Aber für mich war das alles Goldstaub.

Die meis­ten Kind­heits­hel­den ver­blas­sen irgend­wann. Sie schaf­fen es nicht mit rüber ins Erwach­se­nen­le­ben. Mara­dona aber blieb. Mein ewi­ges Idol. Viel­leicht, weil er mich immer berührt hat. Auch als er abstürzte. Als er dem Koka­in ver­fiel, der Maß­lo­sig­keit, dem Wahn­sinn und 120 Kilo wog. Ich habe so sehr gehofft, dass er noch mal die Kur­ve kriegt. Die­go, mein Diego.

Ein­mal sah ich ihn spie­len. Live. Im Mai 2000, beim Abschieds­spiel für Lothar Matthäus. Mara­dona war dick, krank, jemand, über den man Wit­ze mach­te. Aber im Sta­di­on wur­de es still, wenn er am Ball war. Er spiel­te eine Halb­zeit lang. Nie­mand sprach am Ende über Matthäus. Es gibt eini­ge gro­ße Fuß­bal­ler. Mes­si. Ronal­do. Ronald­in­ho. Zidane. Roo­ney. In unvollständiger Aufzählung. Ich habe über sie gestaunt, sie bewun­dert. Mit Mara­dona habe ich auch gelit­ten. Und das ist etwas ganz ande­res. An Mes­si oder Ronal­do habe ich kei­ne Fra­gen. Ich will sie nur spie­len sehen. Mara­dona aber erschien mir wie ein Gesamt­kunst­werk aus Genie, Tra­gik, Schönheit, Sehn­sucht und Hölle. So wie Elvis. Oder Mari­lyn Monroe.

Im Moment fühle ich mich ein biss­chen leer. Und schaue mir auf You­Tube immer wie­der das Video mit Manu Chao an. Für mich der schönste, trau­rigs­te Fuß­ball-Film­mu­sik-Moment. Manu Chao überrascht Mara­dona dar­in in einer Gas­se von Bue­nos Aires und singt: „Si yo fuera Mara­dona, viviría como él …“. Wenn ich Mara­dona wäre, würde ich leben wie er. Die­go Mara­dona schaut zu, ganz still, dicke Son­nen­bril­le im Gesicht. Und man glaubt, dahin­ter sei­ne Tränen zu sehen.

30.11.2020 – Jochen-Mar­tin Gutsch