Vor einer Woche fragte ich meine Töchter: „Na, ihr kleinen Pupsbacken, was wünscht ihr euch denn vom Weihnachtsmann?” Anais und Nadja sahen mich strafend an. Ich dachte erst, meine saloppe Anrede hätte ihnen nicht gefallen, wegen Gender/ Paternalismus/Achtsamkeit und so. Aber darum ging es nicht, jedenfalls nicht in diesem Moment. Anais (die gerade Politikwissenschaften studiert) sagte: „Konsum tötet, denk’ da mal drüber nach, Papa!” Nadja (die sich gerade auf ihr Medizinstudium vorbereitet) sagte: „Jeder Kauf, ob im Internet oder im Laden, erzeugt unnötige Personenkontakte, die eine Pandemiebekämpfung erschweren, denk’ da mal drüber nach, Papa!”
Okay, ich habe darüber nachgedacht und kam zu dem Schluss, dass ich mit zwei ziemlichen Spaßbremsen unter einem Dach lebe. Ich meine, wie kann es denn sein, dass meine Töchter (der Balsam meiner Seele) so übertrieben vernünftig geworden sind? Sie trinken kaum Alkohol, haben seit Jahren einen festen Freund, ernähren sich mehr oder weniger vegan, fliegen nicht mehr mit dem Flugzeug. Und kritisieren mich, weil ich abends gerne ein halbes Fläschchen Rotwein trinke, weil ich Hackfleisch immer noch für eine der größten Errungenschaften der Menschheit halte und das Flugzeug als Transportmittel noch nicht völlig abgeschrieben habe.
Also, nicht dass mich hier jemand falsch versteht, ich plädiere keineswegs dafür, dass meine Töchter zu polyamurösen, konsumverliebten Alkoholikerinnen werden. Ich würde mir nur wünschen, dass ein klitzekleines bisschen mehr Unvernunft in ihr Leben einzieht. Auch deshalb (und das gebe ich gerne zu) weil dann meine eigene Unvernunft vielleicht nicht mehr ganz so unvernünftig daherkommen würde.
Ich meine, normalerweise besteht das Leben doch auch zwei Abschnitten: Dem Rock ’n’ Roll-Teil, in dem man jung, rebellisch, verantwortungslos, experimentierfreudig, also revolutionär ist. Und dem Nordic-Walking-Teil, in dem man achtsam, genügsam, moderat, mit einem Wort, erwachsen wird. Ich frage mich nun, was wohl passiert, wenn man schon in Phase eins erwachsener als die Erwachsenen ist? Wird man dann in Phase zwei so eine Art Spät-Revolutionär? Bleibt also die Summe der Energien immer gleich? Oder unterscheidet man im Lebenszyklus der heutigen Jugend nur noch nach früher und fortgeschrittener Langeweile? Oder ist die Vernunft für die jungen Menschen von heute der einzig mögliche Protest gegen uns Alten, die wir aus Gründen der Gewöhnung und der Gemütlichkeit den Planeten ruinieren?
Meine Güte, ist das alles kompliziert geworden, dabei war es doch noch vor ein paar Jahren überhaupt nicht kompliziert, oder ich habe es einfach nur nicht mitbekommen. Vor ein paar Jahren schrieben meine Töchter schon im Oktober Briefe an den Weihnachtsmann. Sie hatten so viele Wünsche, dass ein einziger Briefbogen gar nicht ausreichte. Am Ende des Briefes schrieben sie: „Falls Du, lieber Weihnachtsmann, nicht alles tragen kannst, frag’ doch den Knecht Ruprecht, der kann Dir sicher helfen.”
Das waren meine Kinder. Gierig, verspielt, unverantwortlich. Und ich durfte der Weihnachtsmann sein, dem kein Weg zu weit und kein Sack zu schwer war. Der am Heiligabend vor Freude einen inneren Bolero tanzte, wenn meine beiden Pupsbacken kreischend ihre Geschenke auswickelten.
Warum konnte das nicht einfach so bleiben? Es war doch gut. Warum muss ständig alles anders werden?
Wobei, wenn ich so darüber nachdenke, ist diese gesellschaftliche Verschiebung für mich persönlich gar nicht schlecht. Weil ich auf diese Weise zum ewigen Rebellen (also Jugendlichem) werde, der nicht nur weiland gegen die Reife seiner Eltern aufbegehrte, sondern sich jetzt auch noch gegen die Vernunft seiner Kinder behaupten muss.
Mein Lebensmotto: „Rock ’n’ Roll for ever”.
16.12.2020 – Maxim Leo