Wie jedes Jahr habe ich auch dieses Jahr zu Weihnachten Geburtstag. Bitte bemitleiden Sie mich nicht! Ich komme gut damit klar und fühle mich ein bisschen wie Jesus. Jesus lag einst in einem Stall in Bethlehem. Irgendwann kamen die Hirten und der Engel Gabriel und später noch drei Könige aus dem Morgenland vorbei und brachten Gold, Weihrauch und Myrrhe. Kurz: Es war eine ganz ordentliche Party.
Bei mir, dem Jesus vom Prenzlauer Berg, kommt zum Geburtstag vermutlich niemand vorbei. Wegen Shutdown. Meine Eltern sind sehr betagt und gehören zur „Covid-Risikogruppe“. Ein Wort, das vor einem Jahr noch unbekannt war. Genauso wie „Beherbergungsverbot“. Oder „AHA-Formel“. Oder „Querdenker“. Dieses Wort finde ich besonders hübsch-scheußlich, vor allem, wenn Menschen mit sächsischer oder schwäbischer Mundart selbstbewusst plärren „Isch bin Querdenger!“ und man innig betet, dass in diesen Quer-Köpfchen doch überhaupt Denkprozesse stattfinden mögen. Gerne auch lineare. Ich habe lange überlegt, wen ich unter Pandemiebedingungen zu meinem Geburtstag einladen könnte. Erlaubt sind an den Weihnachtstagen Treffen von fünf Personen aus bis zu fünf Haushalten.
Da meine Frau und ich bereits in unserem Haushalt leben, bliebe noch Platz für drei haushaltsferne Personen. Aber wer soll das entscheiden, ein Türsteher? Soll ich die Plätze verlosen? Soll ich wie bei „The Voice of Germany“ den überzähligen Gästen an der Wohnungstür sagen: „Tja, für euch habe ich heute leider keinen Hotseat.“ Soll ich nach Alter, Freundschaftsjahren oder Schönheit des Geschenkes selektieren? Leute, die mir eine Flockenquetsche zum Quetschen von Haferflocken schenken wollen, müssen draußen bleiben! Was hätte Jesus getan? Um meinen Geist zu stimulieren, habe ich erstmal Musik gehört. Was für ein beschissenes, ödes Jahr. Vollgestopft mit zwei Sachen in Endlosschleife:
Kontaktbeschränkung und Karl Lauterbach. Die Aussicht für nächstes Jahr? Kontaktbeschränkung und Karl Lauterbach. Tröstlich und herzerwärmend ist wenigstens das neue Weihnachtsalbum von Chilly Gonzalez. Ich hörte die Songs und dachte: Die Welt ist doch gar nicht so mies. Anschließend lauschte ich noch den Weihnachtsliedern der Band Erdmöbel und sang die knarzigen Textzeilen mit: „Als vom Räumdienst das Licht/ Sich in den Busscheiben bricht/Haben wir schon getanzt/In den Heizkörpern von Murmansk“. Das hat meine Corona-Vorgeburtstagslaune sofort gehoben.
Außerdem hatte ich nun eine Party-Idee: Kinder. Fünf Personen aus fünf Haushalten dürfen sich treffen. Kinder bis 14 Jahre werden aber nicht mitgerechnet. Kids are for free! Warum nicht statt meiner angegrauten Ü50-Freunde einen Haufen Teenager einladen? Wir spielen Topfschlagen und Schokoladen-Wettessen und trinken mit langen Strohhalmen Kinderbowle, die ich ein bisschen mit Wodka verfeinere. Ich werde 49 Jahre alt. Ein bisschen junges Blut, der Austausch mit frischgeschlüpftem Leben − das könnte mir gut tun. Und Jesus hat gesagt: „Lasset die Kinder und wehret ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solchen gehört das Himmelreich.“
Ach, Himmelreich. Ich will vor allem trinken und viel fernsehen. Ich will Beständigkeit, Langeweile, Rituale. Etwas zum Festhalten. Ich habe mir das Weihnachtsprogramm angeschaut. Alles wie immer! Dafür liebe ich den RBB, den MDR, das ZDF. Irgendwann wird die Welt gurgelnd untergehen, an Corona oder irgendwas, aber bis dahin kommt noch jedes Jahr Frau Holle, Das kalte Herz, Winnetou, Bud Spencer, Pierre Richard und Chingachgook, die große Schlange.
Und ich singe betrunken mit den Erdmöbeln: „Das Jahr ist schwer und alt/Uns ist so leer und kalt/Was wollen wir mehr?/Denn bald fallen wir ins Bett wie Schnee.“ Yeah.
26.12.2020 – Jochen-Martin Gutsch