Vor einem Jahr saß ich in Havan­na in Fidel Cas­tros Ses­sel. Ich besuch­te für eine Repor­ta­ge die Zei­tung Gran­ma, das Zen­tral­or­gan der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei. Im Büro des Chef­re­dak­teurs stand ein wei­ßer Leder­ses­sel mit Drehfuß.

„Hier hat ER frü­her immer geses­sen“, sag­te der Chef­re­dak­teur und schau­te ehr­fürch­tig auf den lee­ren wei­ßen Ses­sel. Dann ver­ließ der Chef­re­dak­teur für einen Moment das Büro, und ich setz­te mich heim­lich in den hei­li­gen Ses­sel des „Coman­dan­te en jefe“. War­um, kann ich nicht erklä­ren. Viel­leicht woll­te ich den Eis­hauch der Geschich­te an mei­nem Hin­tern spü­ren. Oder den Geist der Revolution.

Ich bin mit Revo­lu­tio­nen und Revo­lu­tio­nä­ren auf­ge­wach­sen. Fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on, Gro­ße Sozia­lis­ti­sche Okto­ber­re­vo­lu­ti­on, Novem­ber­re­vo­lu­ti­on 1918, Kuba­ni­sche Revo­lu­ti­on, die San­di­nis­ten in Nica­ra­gua. Und noch immer liegt in mei­nem Kopf die Lenin’sche Defi­ni­ti­on der „revo­lu­tio­nä­ren Situa­ti­on“. Zusam­men mit der „His­to­ri­schen Mis­si­on der Arbeiterklasse“.

Als Schü­ler in Ost-Ber­lin hat mich die gan­ze Revo­lu­ti­ons­sa­che genervt. Viel lie­ber als die nächs­te Revo­lu­ti­ons­ge­schich­te woll­te ich die neue Plat­te von Depe­che Mode hören. Heu­te ver­mis­se ich den revo­lu­tio­nä­ren Geist ein biss­chen. Oder genau­er gesagt: Ich ver­mis­se die Zukunft.

Im Herbst, wäh­rend des Wahl­kamp­fes in Ber­lin, ging ich manch­mal an einem Pla­kat der CDU vor­bei. Dar­auf stand: „Kei­ne Expe­ri­men­te“. Es war ein CDU-Slo­gan von 1957, aus der Ade­nau­er-Zeit, aber er trifft den aktu­el­len Zeit­geist ganz her­vor­ra­gend. Seit dem Mau­er­fall von 1989 habe ich das Gefühl, in einer ewi­gen Gegen­wart fest­zu­ste­cken. Mal war sie bes­ser, mal schlechter.

Der Kal­te Krieg ging zu Ende, es kamen das Inter­net, der 11. Sep­tem­ber, die Ter­ror-Angst, die Ban­ken-Kri­se, die Euro-Kri­se, die Flücht­lings-Kri­se. Ich habe gehofft, dass sich aus den Kri­sen irgend­et­was Neu­es ent­wi­ckeln könn­te. Eine gesell­schaft­li­che Idee, die über den Erhalt des alten Sta­tus Quo hin­aus­geht. Die in die Zukunft weist. Aber es ging immer nur so wei­ter. Und das Ein­zi­ge was kam, war die Vergangenheit.

Kampf um Errun­gen­schaf­ten der Gegenwart

Über­all in Euro­pa erstar­ken die natio­na­len Bewe­gun­gen. Über­all wächst die Unzu­frie­den­heit mit der Moder­ne. Und der „Füh­rer der frei­en Welt“ heißt jetzt nicht mehr Barack Oba­ma, son­dern Donald Trump. Der Wes­ten ist schwach, die Demo­kra­tie in der Kri­se, die Euro­päi­sche Uni­on steht vor dem Zer­fall – das lese ich stän­dig in der Zei­tung. Ich dach­te immer, gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung geht nach vor­ne. Aber plötz­lich muss man so sehr um die Errun­gen­schaf­ten der Gegen­wart kämp­fen, dass für die Zukunft kaum noch Zeit bleibt.

Aber sie fehlt mir trotz­dem, die Zukunft. Mir fehlt der Opti­mis­mus. Die Visi­on. Manch­mal benei­de ich schon mei­ne alten Eltern. Weil sie in Zei­ten auf­wuch­sen, in denen man zwar viel beschei­de­ner leb­te, aber alles umweht war von dem Glau­ben, dass die Zukunft bes­ser sein wird als die Gegen­wart. Frei­er, wohl­ha­ben­der, fried­li­cher. Man woll­te zum Mond rei­sen. Und natür­lich woll­te man die Welt ver­bes­sern. Das ging zwar in die Hose. Aber wor­an den­ke ich heu­te beim Wort Zukunft?

Selbst­fah­ren­de Autos und gefühls­ech­ter Cybersex

An das Inter­net? An ein iPho­ne mit 80 Tril­lio­nen Pixeln und Staub­sauger­funk­ti­on? An eine neue App, mit der man Essen bestel­len kann? An selbst­fah­ren­de Autos oder „gefühls­ech­ten Cybersex“?

Viel­leicht war es lächer­lich, Che Gue­va­ra zu ver­göt­tern. Oder in den 80er-Jah­ren auf einem Oster­marsch zu rufen: „Hopp, Hopp, Hopp – Atom­ra­ke­ten­stopp!“ Aber wenn ich spä­ter mal gefragt wer­de: Wofür hat eure Gene­ra­ti­on gekämpft? Wor­an habt ihr geglaubt? Dann muss ich sagen: an Face­book, Twit­ter und Laktose-Intoleranz.

Fidel Cas­tro ist natür­lich auch kein Vor­bild. Er war am Ende so revo­lu­tio­när wie die Ber­li­ner CDU: kei­ne Expe­ri­men­te. Aber als ich in Havan­na in sei­nem wei­ßen Ses­sel saß, dach­te ich: Wäre trotz­dem schön, wenn mal wie­der jemand ver­sucht, die Welt zu ver­än­dern. Rich­tung Zukunft.

04.12.2016 – Jochen-Mar­tin Gutsch