Gestern saß ich zur Mittagszeit in meinem Lieblingscafé und löffelte eine Hackfleisch-Wirsingkohlsuppe. Vielleicht aß ich zu gierig, womöglich war ich zu sehr in den Sportteil der Zeitung vertieft, jedenfalls geschah es, dass ein Hackfleisch-Krümelchen in meine Luftröhre gelangte und einen starken Husten-Reflex auslöste. Ich konnte gerade noch geistesgegenwärtig das Gesicht in die Armbeuge tauchen, als sich auch schon ein Husten-Hurrikan der Kategorie 5 entlud.
Nachdem die erste Husten-Welle vorbei war, schnappte ich röchelnd nach Luft, was erneut einen Hustenreiz auslöste, der diesmal noch viel schlimmer war. Ich hatte das Gefühl, beträchtliche Teile meiner Bronchien und mindestens ein Lungenflügel würden um mich herumfliegen. Dann beruhigte ich mich langsam wieder, saß schwer atmend da, mit Tränen in den Augen.
Als ich aufsah, bemerkte ich, dass sich das Café deutlich geleert hatte. Die Leute, die eben noch an den Nachbartischen gesessen hatten, standen weit von mir entfernt und starrten mich erschrocken an. Ich wollte rufen: Hey Leute, kein Problem, ich habe mich nur verschluckt. Aber mehr als ein Röcheln brachte ich nicht hervor. Außerdem provozierte dieser vermutlich zu früh unternommene Sprechversuch einen weiteren Hustenanfall, der meinen bereits geschwächten Körper abermals krampfartig erzittern ließ. Dazu erscholl ein tiefes Bellen aus meinem Brustkorb, als wohnte dort ein gallespuckender Höllenhund.
In den Augen der Umstehenden flackerte nun die blanke Angst, die jederzeit, das wurde mir augenblicklich klar, in Hass umschlagen konnte. Zum Glück trauten sie sich nicht näher an mich heran, sonst hätten sie mich womöglich im Namen der Volksgesundheit an Ort und Stelle erledigt. Im Polizeibericht hätte dann gestanden:
„Der mutmaßliche Covid-Attentäter Maxim L., der von Anwohnern seines Wohnviertels trotz seiner ostdeutschen Herkunft als zumeist friedlicher Zeitgenosse beschreiben wurde, hatte mehrfach aggressiv in Richtung der umstehenden Gäste gehustet, unter denen sich zufällig auch ein pensionierter Lungenarzt befand, der das dumpfe Thorax-Rasseln des L. zweifelsfrei als SARS-CoV-2-Infektion diagnostizieren konnte.
Da der offensichtlich kontaminierte Aerosol-Ausstoß des L. signifikant über der von der WHO festgelegten letalen Dosis für Innenräume lag, kam es zu einer Güterabwägung, die ergab, dass hier ein Menschenleben gegen viele Menschenleben stand. Insofern schien es geboten, dem L. mit mehreren festen Schlägen auf den Hinterkopf mittels eines eilends abgebrochenen Tischbeins nachhaltig den Atem zu nehmen. Der juristische Dienst der Berliner Polizei äußerte in einer ersten Stellungnahme, es habe sich hier ganz offensichtlich um einen Akt der kollektiven Selbstverteidigung gehandelt. Ähnlich wie beim finalen Rettungsschuss sei dieser laut Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zulässig, „wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.”
Zum Glück ist es an diesem Tag in meinem Lieblingscafé nicht so weit gekommen, aber gänzlich ausschließen hätte ich eine solche Entwicklung nicht können. Deshalb trage ich jetzt immer einen Zettel um den Hals, bevor ich mich in einem Restaurant oder Café niederlasse. Auf dem Zettel steht: „Liebe Mitgäste, falls ich im Laufe meines Aufenthaltes hier schlimm husten sollte, kümmern sie sich bitte nicht darum, es ist kein Corona, sondern nur eine offene TBC, die ich mir im Ersten Weltkrieg zugezogen habe. Auf ihr Verständnis hoffend, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen.”
Sie, liebe Leserinnen, liebe Leser, können diesen Text gerne verwenden, er kann vielleicht auch ihr Leben retten. In diesem Sinne, wünsche ich ein gesundes Wochenende.
28.10.2020 – Maxim Leo