Als ich ein Kind war, lief im West­fern­se­hen oft „Vor vier­zig Jah­ren“, eine Sen­dung über den 2. Welt­krieg mit alten Berich­ten der „Deut­schen Wochen­schau“. Ich saß vor dem Fern­se­her und konn­te mir das nicht vor­stel­len: 40 Jah­re. Es war so unend­lich weit weg. Qua­si: Urzeit.

Als ich gebo­ren wur­de, 1971, war der Krieg seit 26 Jah­ren vor­bei, und ich hat­te nie das Gefühl, die­ser Krieg könn­te auch etwas mit mir zu tun haben. Erst in den letz­ten Jah­ren hat sich das geän­dert. Viel­leicht liegt es am Alter. Viel­leicht hat es mit die­ser Kis­te vol­ler ver­gilb­ter Brie­fe zu tun, die mir mein Vater vor eini­ger Zeit zeig­te: Die Brie­fe mei­nes Groß­va­ters aus dem Krieg, Ostfront.

Frag­te ich als Kind nach Opa Hans, dann kam die Ant­wort, er sei im Krieg „ver­misst“. Irgend­wo in Russ­land. Ich wuss­te nicht, was „ver­misst“ bedeu­tet. Ich stell­te mir vor, mein Opa leb­te jetzt in der Sowjet­uni­on. Viel­leicht in Moskau.

Als mein Vater sie­ben Jah­re alt war, zog mein Groß­va­ter in den Krieg und kam, bis auf kur­ze Urlau­be, nie mehr zurück. Mei­ne Mut­ter, Jahr­gang 1936, flüch­te­te im Janu­ar 1945 auf einem Pfer­de­schlit­ten über das Fri­sche Haff, West­preu­ßen. Ich wur­de also groß­ge­zo­gen von einem Kriegs-Halb­wai­sen und einem Flüchtlingskind.

Ein Wort, das ich seit frü­hes­ter Kind­heit ken­ne, ist des­halb auch „Tief­flie­ger“. Mei­ne Mut­ter erzähl­te manch­mal von den Tief­flie­ger­an­grif­fen auf der Flucht. Den „Sturz­kampf­bom­bern“. Das beein­druck­te und ängs­tig­te mich so sehr, dass ich, fünf Jah­re alt, eine Zeit lang sofort ins Haus lief, sobald ein Flug­zeug über unse­ren Gar­ten dröhn­te. Und es zer­reißt mir heu­te das Herz, wenn ich mir die­ses Bild vor­stel­le: Mei­ne Mut­ter, ein klei­nes Mäd­chen, das um ihr Leben rennt.

Ein gro­ßes The­ma für mei­ne Eltern war stets auch das Essen. Mein Vater, das Kriegs­kind, konn­te kaum ertra­gen, wenn sei­ne eige­nen Kin­der lust­los im Essen rum­sto­cher­ten. Spä­ter befes­tig­te mei­ne Mut­ter im Tür­rah­men der Toi­let­te unse­rer Dat­sche einen Zei­tungs­aus­schnitt. Eine Mel­dung dar­über wie vie­le Kin­der auf der Welt an Hun­ger lit­ten. Als Mah­nung. Ver­gesst nicht wie gut es euch geht.

Heu­te fra­ge ich mich manch­mal: Wie haben das mei­ne Eltern eigent­lich alles geschafft? Einen Krieg über­lebt, aus­ge­bombt in Flücht­lings­un­ter­künf­ten gehaust, die Nach­kriegs­zeit durch­lit­ten, auf­er­stan­den aus Rui­nen. Dann die DDR, der Mau­er­bau, der Mau­er­fall und wie­der vor vor­ne anfan­gen. Faschis­mus, Sozia­lis­mus, Kapi­ta­lis­mus. Und ganz neben­bei: drei Kin­der groß­zie­hen, ein Haus bau­en, eine Zahn­arzt­pra­xis am Lau­fen hal­ten. Mein eige­nes Leben erscheint mir zuwei­len etwas wohl­stands­s­att und sor­gen­frei, ver­gli­chen mit der Geschich­te mei­ner Eltern.

Als 2015 hun­dert­tau­sen­de Flücht­lin­ge nach Deutsch­land ström­ten, bat mich mei­ne Mut­ter immer wie­der, zu spen­den. Klei­dung, Geld, Win­ter­schu­he, ganz egal. Sie, das Flücht­lings­kind, konn­te das nicht ertra­gen – Men­schen auf der Flucht.

Als ich damals mit mei­nem Vater vor der Kis­te mit den Front­brie­fen stand, sag­te er mir, dass es Momen­te gebe, wo er noch immer das Gefühl habe, sein Vater, der ver­miss­te Wehr­machts­sol­dat Hans Gutsch, könn­te plötz­lich vor der Tür ste­hen. Der Krieg, so scheint es, hört nie auf. Ver­misst ist ein Wort ohne Schluss­punkt. Aber war­um erzäh­le ich das alles?

An die­sem Sonn­tag, dem 1. Sep­tem­ber, wird in Bran­den­burg und Sach­sen gewählt. An einem Frei­tag, dem 1. Sep­tem­ber 1939, begann der Zwei­te Welt­krieg. Und mei­ne Eltern, die Kriegs­kin­der, wür­den sich sehr freu­en, wenn nun 80 Jah­re nach Kriegs­be­ginn nie­mand jene Par­tei wählt (ers­ter Buch­sta­be A, letz­ter Buch­sta­be D), die deut­sche Geschich­te ger­ne mal vergisst.

01.09.2019 – Jochen-Mar­tin Gutsch