Mei­ne Frau Cathe­ri­ne ist seit ein paar Mona­ten Mit­glied einer euro­päi­schen Bür­ger­be­we­gung. Sie sagt, wer sich jetzt nicht für Euro­pa enga­giert, der darf sich nicht wun­dern, wenn es irgend­wann ver­schwun­den ist. Grund­sätz­lich bin ich da natür­lich völ­lig mit ihr ein­ver­stan­den. Es ist nur so, dass sich unser Fami­li­en­le­ben stark ver­än­dert hat, seit mei­ne Frau Euro­pa rettet.

Der Tag beginnt mit dem gemein­sa­men Sin­gen der Euro­pa-Hym­ne. Wäh­rend des Früh­stücks darf nicht gespro­chen wer­den, denn wir hören im Radio die neu­es­ten Euro­pa-Nach­rich­ten. Dann hat mei­ne Frau ihre Europa-Telefonkonferenz.

Anschlie­ßend erzählt mir mei­ne Frau von der Euro­pa-Tele­fon­kon­fe­renz. Manch­mal dau­ert die Erzäh­lung län­ger als die Kon­fe­renz. Ich ken­ne mitt­ler­wei­le ihre engs­ten vier­hun­dert bis fünf­hun­dert Mit­strei­ter ziem­lich genau, obwohl ich die­se Leu­te noch nie gese­hen habe. Ich bin auch über aktu­el­le und zukünf­ti­ge Pro­jek­te detail­liert unter­rich­tet. Falls der Chef der Bür­ger­be­we­gung mal krank wird, könn­te ich ihn pro­blem­los erset­zen, auch Urlaubs­ver­tre­tun­gen wären mög­lich. Es ist übri­gens ein rie­si­ger Vor­teil, dass ich so gut infor­miert bin. Wie soll­te ich sonst mit mei­ner Frau ins Gespräch kom­men? Auf bana­le Din­ge des All­tags reagiert sie schon lan­ge nicht mehr. Sage ich zum Bei­spiel: „Schatz, wol­len wir heu­te Abend ins Kino gehen?“, dann guckt sie mich an wie Flie­gen­dreck. Sage ich hin­ge­gen: „Schatz, wür­de die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät Euro­pas nicht gestärkt, wenn wir uns heu­te Abend einen spa­ni­schen Film mit grie­chi­schen Unter­ti­teln anschau­en?“, dann habe ich ihre unge­teil­te Aufmerksamkeit.

Mein außen­po­li­ti­sches Den­ken ist von Frau­en geprägt

Mei­ne Frau ist in Luxem­burg gebo­ren, in Brüs­sel auf­ge­wach­sen, hat in Paris stu­diert und lebt jetzt in Ber­lin. Viel euro­päi­scher als sie kann man nicht sein. Ich war in mei­ner Jugend in der Gesell­schaft für Deutsch-Sowje­ti­sche Freund­schaft, was aller­dings vor allem damit zu tun hat­te, dass Julia­ne, ein schö­nes Mäd­chen aus der Nach­bar­klas­se, dort auch Mit­glied war. Spä­ter stu­dier­te ich in Paris, lern­te mei­ne Frau ken­nen und wur­de zu einem über­zeug­ten Ver­fech­ter der Deutsch-Fran­zö­si­schen Freund­schaft. Man könn­te also sagen, dass mein außen­po­li­ti­sches Den­ken nicht unent­schei­dend vom weib­li­chen Geschlecht geprägt wurde.

Aber auch mein Groß­va­ter spiel­te eine Rol­le. Er war als Kind mit sei­nen Eltern vor den Nazis nach Frank­reich geflo­hen, schloss sich spä­ter den Par­ti­sa­nen an und kam als Leut­nant der fran­zö­si­schen Armee ins besieg­te Deutsch­land zurück. Er war, den­ke ich, auf sei­ne Art Europäer.

Als ich in Paris stu­dier­te, regier­ten Fran­çois Mit­ter­rand und Hel­mut Kohl, die sich zehn Jah­re zuvor in Ver­dun die Hän­de gereicht hat­ten. Die Geschich­te Euro­pas erschien mir unum­kehr­bar zu sein. Es war klar, dass die euro­päi­schen Natio­nen sich nie wie­der gegen­ein­an­der wen­den wür­den. Es war klar, dass kein euro­päi­sches Land allei­ne bestehen kann. Dass nur die Uni­on Euro­pa eine Stim­me gibt. Und heu­te? Da scheint das alles nicht mehr so klar zu sein. Da gibt es immer mehr Leu­te, die ernst­haft den­ken, man käme allei­ne bes­ser zurecht. Da wird die Geschich­te ver­ges­sen. Da wird Hass und Angst geschürt.

Okay, lie­be Leser, es tut mir leid, irgend­wie ist die­se klei­ne, hei­te­re Geschich­te jetzt auf ein­mal ins Gro­ße, Ernst­haf­te gerutscht. Aber so ist das eben manch­mal, vor allem in so selt­sa­men Zei­ten. Wie Sie wis­sen, fin­det nächs­te Woche die Euro­pa­wahl statt. Zum ers­ten Mal könn­ten die rechts­po­pu­lis­ti­schen Angst­ma­cher und natio­na­lis­ti­schen Het­zer Euro­pa blo­ckie­ren. Des­halb, lie­be Leser, gehen Sie bit­te zu die­ser Wahl und stim­men Sie für Euro­pa! Sie wür­den damit auch mir ganz per­sön­lich hel­fen, denn wenn die Bedro­hung abge­wen­det wird, muss mei­ne Frau nicht mehr in der Bür­ger­be­we­gung mit­ma­chen. Und mein Fami­li­en­le­ben und die­se Kolum­ne wer­den wie­der normal.

19.05.2019 – Maxim Leo