Immer, wenn es Mai wird, reist Ange­li­na, die 92-jäh­ri­ge Groß­tan­te mei­ner Frau, von Sao Pau­lo nach Ber­lin, um den Som­mer mit uns zu ver­brin­gen. Eini­ge Wochen zuvor begin­nen wir mit den Besuchs­vor­be­rei­tun­gen, die vor allem dar­in bestehen, uns zu über­le­gen, wel­che Arbei­ten Ange­li­na über­neh­men könn­te. Alte Men­schen seh­nen sich ja nach Beschäf­ti­gung. Sie wol­len sich nütz­lich füh­len, sie wol­len ihre Fähig­kei­ten ein­brin­gen – nun, bei uns sind flei­ßi­ge Senio­ren immer willkommen.

Vor Ange­li­nas Ankunft stell­te mei­ne Frau das Bügeln kom­plett ein und sam­mel­te jeg­li­che Bügel­wä­sche auf einem berg­ähn­li­chen Hau­fen. Als Will­kom­mens­ge­schenk. Ich hol­te die Lei­ter aus dem Kel­ler, denn Ange­li­na ist zwar eine äußerst fit­te, aber eben sehr klei­ne Dame, und wenn man die Fens­ter ordent­lich put­zen will, ist es wich­tig, auch jene Fens­ter ganz oben zu errei­chen, dort, wo sich der Schmutz beson­ders hart­nä­ckig sam­melt. Und steht man erst­mal auf die­ser Lei­ter, las­sen sich auch die stau­bi­gen Vor­hän­ge bes­ser abneh­men, die nach Jah­ren der Miss­ach­tung gewa­schen wer­den müssen.

Es ist nur so: Egal wie vie­le Arbei­ten wir uns für Ange­li­na über­le­gen – spä­tes­tens nach drei Wochen ist alles erle­digt, und Ange­li­na beginnt sich zu lang­wei­len. Was wollt ihr essen, fragt sie nun jeden Tag. Ich koche für euch! Anfangs war das toll, so als wür­den wir in einem Restau­rant woh­nen. Aber nach einer Woche gin­gen uns die Wunsch­ge­rich­te lang­sam aus, und jetzt wün­schen wir uns, nichts mehr wün­schen zu müs­sen. Also sag­te ich: Denk dir was aus. Über­ra­sche uns!

Nun, das war nicht mei­ne bes­te Idee. Ange­li­na ist eine sehr gute Köchin, aber passt man nicht auf, dann kocht sie wirk­lich alles – zuwei­len auch unde­fi­nier­ba­re Inne­rei­en oder Din­ge, die das Halt­bar­keits­da­tum längst über­schrit­ten haben.

Neu­lich woll­te ich ein Stück Käse weg­schmei­ßen, an den Rän­dern waren Schim­mel­kul­tu­ren erkenn­bar, aber Ange­li­na nahm mir den Käse aus der Hand, und leg­te ihn wie eine Kost­bar­keit in eine Tup­per-Dose. Dort liegt er heu­te noch. Zehn Tage spä­ter. Manch­mal isst sie von dem Käse, den blü­hen­den Schim­mel schnei­det sie von den Rän­dern ein­fach ab. „Ver­trägt das ihr Magen?“, frag­te ich mei­ne Frau. „Glaub mir, ihr Magen hat schon ganz Din­ge ande­re ver­daut“, sag­te mei­ne Frau, und es war, als wür­den wir über eine beson­ders robus­te Kuh spre­chen, die auch ros­ti­ge Nägel frisst.

Fünf­zig Schaf­sau­gen vom Grill

Am Wochen­en­de fuh­ren wir dann nach Bran­den­burg, ich kauf­te fri­schen Zan­der. Zu Ange­li­na aber sag­te ich: „Tut mir leid, Zan­der war aus. Statt­des­sen habe ich Schaf­sau­gen gekauft.“ Ich hielt die Tüte mit dem Zan­der hoch und sag­te mit rau­nen­der Hor­ro­film-Stim­me: „Fünf­zig Schaf­sau­gen!“ Aber statt sich zu gru­seln, klatsch­te Ange­li­na in die Hän­de und rief: „Schaf­sau­gen! Herr­lich! Wir könn­ten sie grillen!“

Als ich noch ein Kind war, gab es zu Hau­se manch­mal Eis­bein. Ich moch­te das Fleisch, mein Vater aber aß beson­ders gern die Schwar­te – dicke zähe Haut, in der manch­mal noch Bors­ten steck­ten. „Das Aller­bes­te am Eis­bein“, sag­te mein Vater, das Kriegs­kind, strich dick Senf auf die behaar­te Schwei­ne­haut, aß genüss­lich und zog nur hin nun wie­der eini­ge läs­ti­ge Bors­ten aus sei­nem Mund wie Fischgräten.

Ich habe nie die Schwar­te geges­sen, trotz­dem bewun­de­re ich heu­te die Alten wie Ange­li­na und mei­nen Vater – die­se Gene­ra­ti­on der freud­vol­len Alles-Esser mit ihren robus­ten Mägen. In mei­ner Gene­ra­ti­on der Vega­ner, Fas­ter, Roh­köst­ler, Dampf­ga­rer, Zucker-Bekämp­fer und der zur Schau gestell­ten Unver­träg­lich­kei­ten sind Robust­heit und Genuss­freu­de ja eher selten.

„Wie schme­cken Schaf­sau­gen eigent­lich?“, frag­te ich Ange­li­na vor ein paar Tagen.

„Schwer zu beschrei­ben. Aber man soll­te sie nicht kau­en. Bes­ser gleich run­ter­schlu­cken. Soll ich dir wel­che gril­len?“ – „Viel­leicht ein ande­res Mal“, sag­te ich würgend.

23.06.2019 – Jochen-Mar­tin Gutsch