Am Wochenende fliege ich nach Riga. Später fliege ich nach Mallorca. Dann nach Köln. Anschließend nach Thailand. Später auch noch nach Brasilien. Manche dieser Flugreisen sind rein privat, andere beruflich.
Ein schönes Wort, das ich jetzt häufig lese, lautet: Flugscham. Man sitzt im Flugzeug, fliegt durch die Welt, aber mit einem schlechten Gewissen. Man fliegt zwar, ist aber eigentlich total dagegen zu fliegen. Ich habe das Fliegen, wie das Reisen überhaupt, immer als Privileg empfunden. Als Sehnsuchtsstoff auch. Vielleicht hat es mit meiner Ost-Sozialisation zu tun. „Die Ferne ist, wo ich nicht bin/Ich geh und geh und komm nicht hin“ sang die Band Silly in den 80er-Jahren.
Ich halte das Fliegen aber auch ganz grundsätzlich und vollkommen ostfrei für eine große Errungenschaft, für eine der erstaunlichsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte überhaupt. Deshalb ist mir die neue deutsche Flugscham sehr fremd. Fliegen belastet das Klima, ja. Aber was würde passieren, klimamäßig, wenn wir alle nicht mehr fliegen? Anscheinend so gut wie nichts. Der weltweite Flugverkehr produzierte im Jahr 2014 ungefähr zwei Prozent der gesamten Treibhaus-Emissionen weltweit. Das las ich in der Zeit. Deutsche Fluggäste sind aktuell für 0,1 Prozent des weltweiten Kohlendioxid-Ausstoßes verantwortlich. Das hörte ich in der ARD. Zum Vergleich: Allein die Zerstörung des Regenwaldes macht elf Prozent der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen aus. Sagt Gerd Müller. Nein, nicht der Torjäger. Der deutsche Entwicklungsminister.
Mit diesen Zahlen will ich die Flugscham und das Problem des Klimawandels nicht kleinreden. Ganz im Gegenteil. Wir brauchen viel globalere, einschneidendere Lösungen als den in Deutschland gerade sehr beliebten privaten Verzicht.
Ich bezweifle, dass es sinnvoll ist, die Verantwortung für den Klimawandel auf das Individuum abzuladen. So zu tun, als könnte der Einzelne das strukturelle Problem Klimaschutz lösen, wenn er doch nur ein „guter Mensch“ würde.
Aber der Glaube an den Verzicht ist anscheinend groß und passt zur moralisierenden, fast religiösen Tonalität, welche die Klimadebatte prägt. Vom „Umweltsünder“ ist die Rede. Vom „Klimafasten“ auch. Was wiederum gut zum modernen Glaubensbekenntnis des urbanen Bürgertums passt, wonach man die Welt einfach „besser kaufen“ kann. Im Bio-Laden. Oder „besser essen“. Als Veganer. Oder eben „besser reisen“. Mit der Bahn. Vor ein paar Tagen las ich einen Leserbrief in dieser Zeitung, von Frau Kreichgauer. Sie schrieb: „Ich esse so gut wie kein Fleisch mehr. Eier nur von Bio-Freiland. Keine Plastikflaschen mehr. Reisen per Zug. Kein Auto. Jetzt sage ich: Du kannst das auch, wenn du dich aus deiner Komfortzone bewegst!“
Ich dachte: Was kann ich auch? Leben wie vor hundert Jahren und mir auf die Schulter klopfen, weil ICH so viel für das Klima tue?
Der Klimawandel ist nichts anderes als die Folge einer globalen Wirtschaftsweise, genannt Kapitalismus, die ihre Produktion ständig steigern muss. Die Profit über alles setzt, die Ressourcen ausbeutet, wo immer es möglich ist. Insofern braucht es, politische Entscheidungen, dieses System zu ändern.
Aber das will natürlich niemand. Dann lieber einmal pro Woche auf Fleisch verzichten! Oder auf einen Inlandsflug! Oder im Garten den Rasen nicht mähen! Für das Weltklima! Betrüblich stimmt mich auch die Rückwärtsgewandtheit und Technologiefeindlichkeit der Debatte. Greta Thunberg, Klimaaktivistin, reist jetzt nach Amerika zum UN – Klimagipfel. Nicht mit dem Flugzeug. Mit dem Segelboot, so wie früher die Wikinger, was in den Medien sehr bejubelt wurde. Die Reise dauert zwei Wochen oder so. Ist das die Zukunft der Mobilität? Dass wir jetzt alle Segler werden? Oder in den Urlaub rudern? Fällt uns wirklich nichts innovativeres, radikaleres, effektiveres ein als Verzicht?
04.08.2019 – Jochen-Martin Gutsch