Eine Zeit lang war ich nicht in der Stadt, und jetzt, da ich wieder in der Stadt bin, kommt sie mir sehr wunderlich vor. Ich betrat am Morgen ein Café und sagte: einen Kaffee, bitte. Die Bedienung war ein junger Mann in engen Hosen, und er sagte: „Hi! How are you?“
Ich sagte: „Gut. Danke. Einen Kaffee, bitte.“
Er sagte: „Coffee?“
Ich sagte: „Kaffee, ja.“
Er sagte: „Decaf? Milk? Anything to eat? I recommend our breakfast special: homemade granola with fresh fruits, yoghurt and quinoa …“
„Einen Kaffee, bitte“, sagte ich und fühlte mich plötzlich sehr müde.
Der Berliner Minderwertigkeitskomplex
Wenn ich etwas in Berlin nicht mehr ertragen kann, dann ist es die Unsitte, mit großer Selbstverständlichkeit auf Englisch vollgerülpst zu werden. Aus irgendwelchen Gründen gilt das in Berlin als weltstädtisch, als Zeichen großer Internationalität. Dabei ist es nur ein Zeichen großer Provinzialität und des ausgeprägten Berliner Minderwertigkeitskomplexes.
Vor einiger Zeit saß ich mit Freunden in einem Restaurant, wo die gesamte Bedienung nur Englisch sprach, aber hörbar aus Deutschland kam. Vermutlich: Brandenburg. Das war dann fast schon lustig, so als wären wir alle Figuren in einem absurden Theaterstück. Wir spielten für einen Abend Manhattan oder London, große weite Welt – saßen aber nur im hundekotigen, ostigen Friedrichshain.
Fuck off!
Man mag mich für einen rückwärts gewandten, altmodischen Herren halten, aber ich finde, es ist eine schöne Sitte und ein Zeichen von Höflichkeit, dass man ein wenig die Landessprache spricht, wenn man Leute bedient. Nicht perfekt. Es kann holprig, ungelenk und fehlerhaft sein. No problem, buddy. Aber in Mitte, Kreuzberg oder Neukölln sind viele Leute ganz aufgekratzt und bekommen kleine Hipster-Orgasmen, wenn ein enge-Hosen-Boy oder ein flächendeckend tätowiertes Bedienungsgirl im Restaurant an den Tisch tritt und das Tagesmenü gelangweilt auf Englisch runter rattert. Es ist hier wie in New York!, denken die Leute dann. Berlin ist ja so weltstädtisch!
Dazu fällt mir nur ein: Fuck off! Eine Weltstadt erkennt man daran, dass ihre Bewohner und Politiker nicht ständig darauf hinweisen müssen, Weltstadt zu sein. Weil es ja alle wissen. Und weil man sich einen Dreck darum schert, was andere denken. Berlin schert sich ständig darum, was andere denken. Berlin erinnert mich jetzt oft an einen aufgeregten, unsicheren Typen, der nach dem Sex gerne fragt: Und, wie war ich? Weltniveau?
Der Hostel-Strich am Rosenthaler Platz
Wenn die New York Times schreibt, dass Berlin wieder irgendwas ist, angesagt oder nicht mehr angesagt, dann wird das sofort auf den Titelseiten der Berliner Zeitungen bejubelt, so als hätte man endlich den Titel Weltstadt verliehen bekommen. In London hätte man nur gähnend gefragt: Wer zur Hölle ist die New York Times?
Wenn die Touristenzahlen steigen, dann wird in Berlin sofort in die Welt geblasen, dass man jetzt die Nummer drei ist in Europa. Nummer drei! In Paris sitzen sie in ihrer wohlgeformten Stadt und denken: Schön, dass die brüllenden Horden von Billig-Assi-Touristen nicht zu uns kommen, sondern alle zum Hostel-Strich an den Rosenthaler Platz fahren. Touristisch gesehen ist Berlin der Ballermann Europas.
Ich hoffe, es ist nur eine schlechte Phase
Ich bin in Berlin geboren. Ich mag die Stadt. Und ich hoffe, es ist es jetzt nur eine schlechte Phase, beziehungsmäßig. Aber wenn ich ehrlich bin, fällt es mir gerade sehr schwer, zu sagen, was Berlin ausmacht. Wofür Berlin steht. Berlin ist vor allem Kopie geworden. Zusammengeklaut und zusammengeschraubt aus den Resten und Moden anderer großer Städte. Ein irgendwie identitätsloser, traditionsloser New-York-Cheesecake-Ort, der überall sein könnte. Wie eine Starbucks-Bude.
Und natürlich blutet mein Berliner Herz, wenn ich diese Sätze schreibe.
07.05.2017 – Jochen-Martin Gutsch