Rei­se­mä­ßig ver­spricht der Som­mer 2020 eher nicht so span­nend zu wer­den. Was tun? Maxim Leo hat da eine Idee. (Ber­li­ner Zeitung)

Ber­lin – Ges­tern, beim Abend­essen im trau­ten Kreis der Fami­lie, kam plötz­lich ein The­ma auf, vor dem ich mich schon lan­ge gefürch­tet habe. Mei­ne Toch­ter Anais frag­te: „Wo fah­ren wir denn eigent­lich hin die­sen Som­mer?“ Man muss dazu wis­sen, dass es seit ein paar Jah­ren einen unaus­ge­spro­che­nen Deal in unse­rer Fami­lie gibt: Die Kin­der fah­ren mit uns in den Urlaub, wenn die Rei­se geil ist.

Wobei die Vor­stel­lung des­sen, was als gei­le Rei­se bezeich­net wer­den kann, sich mit der Zeit dra­ma­tisch ver­än­dert hat. Nach dem gro­ßen USA-Rund­trip, dem aus­ge­dehn­ten Thai­land-Aben­teu­er und der mehr­wö­chi­gen Ama­zo­nas-Safa­ri sind wei­te­re Stei­ge­run­gen nur noch schwer zu rea­li­sie­ren. Mög­li­cher­wei­se wür­de ein Abste­cher auf dem Rücken eines wil­den Ele­fan­ten ins Oka­van­go­del­ta oder eine Tauch­tour mit wei­ßen Hai­en an den indo­ne­si­schen Koral­len­rif­fen noch gera­de so akzep­tiert wer­den. Aber dage­gen spre­chen zwei Grün­de: Ers­tens, man kann da jetzt gera­de nicht hin. Und zwei­tens, man darf da jetzt gera­de nicht hin. Coro­na und das wach­sen­de öko­lo­gi­sche Gewis­sen sor­gen dafür, dass der Som­mer 2020 rei­se­mä­ßig ver­mut­lich eher nicht so geil wer­den wird.

„Schaut mal Kin­der, ein Altglascontainer!“

Das darf ich den Kin­dern natür­lich nicht so sagen, weil sie sonst sofort mit ihren picke­li­gen Freun­den zum Cam­pen los­zie­hen und ich sie bis zum Herbst nicht wie­der­se­he. Des­halb muss ich geschickt sein und ihnen die weni­gen Optio­nen, die uns blei­ben, als rich­tig hei­ßen Scheiß verkaufen.

Ich habe ein biss­chen recher­chiert, weil ich dach­te: Na, viel­leicht gibt es ja Per­len in Bran­den­burg, die noch nie­mand ent­deckt hat. Und womög­lich ist Sach­sen-Anhalt dem Oka­van­go­del­ta näher, als man denkt. Dann stieß ich auf einen Arti­kel mit dem viel­ver­spre­chen­den Titel „Aben­teu­er Daheimbleiben“.

Na also, dach­te ich, es gibt also doch einen Weg. Aber lei­der war ich nach dem Lesen die­ses Arti­kels noch depri­mier­ter als zuvor. Es wur­de zum Bei­spiel gera­ten, doch ein­fach mal den eige­nen Kiez mit den neu­gie­ri­gen Augen eines Frem­den zu ent­de­cken. „So kön­nen Sie Ihre Nach­barn bes­ser ken­nen­ler­nen“, stand in dem Arti­kel, „und auch der Mann im Späti oder die Putz­frau haben bestimmt inter­es­san­te Geschich­ten zu erzählen.“

Ich ver­such­te, mir vor­zu­stel­len, wie ich mit den Kin­dern durch die Nach­bar­schaft strei­fe und rufe: „Schaut mal Kin­der, ein Alt­glas­con­tai­ner! Und da drü­ben, das ist doch … nein, das kann nicht wahr sein, aber ja, es ist wirk­lich ein … Schreib­wa­ren­la­den!“ Und irgend­wann ste­hen wir dann vor dem Späti und ich sage zu dem Mann am Ver­kaufs­tre­sen: „Hal­lo, wir machen hier gera­de Urlaub, und es wäre toll, wenn sie uns ein paar von Ihren total inter­es­san­ten Geschich­ten erzählen!“

War­um nicht mal die Schub­la­de durchkramen?

In dem Arti­kel wird auch gera­ten, die eige­ne Woh­nung zu erkun­den. „War­um nicht mal die Schub­la­den zu Hau­se durch­kra­men, alte Brie­fe lesen.“ Na klar, dach­te ich, war­um war ich da nicht selbst dar­auf gekom­men? Ich weiß ja nicht wie es Ihnen, lie­be Leser, so geht, aber in mei­ner Woh­nung gibt es jede Men­ge Ecken, in denen ich noch nie gewe­sen bin. Was für ein Spaß es wäre, das alles end­lich mal zu ent­de­cken! Ich wäre der Hum­boldt vom Prenz­lau­er Berg, der Colum­bus vom drit­ten Stock, Vor­der­haus links.

Von den alten Brie­fen wür­de ich aller­dings abra­ten, meis­tens merkt man beim Lesen näm­lich nur, was für ein rie­si­ger Trot­tel man war. Und ver­mut­lich immer noch ist. Und wer möch­te sol­che Gedan­ken schon im Urlaub haben?

Jeden­falls sag­te ich zu mei­nen Töch­tern: „Mei­ne süßen Ratz­e­mäu­se, wir fah­ren die­ses Jahr nach Bali.“ – „Oh ja? Ist das wahr?“, rie­fen mei­ne Töch­ter freu­dig. Und ich nick­te und ver­gaß zu sagen, dass Bali bei den Bran­den­bur­gern die necki­sche Abkür­zung für Bad Lie­ben­wer­da ist. Aber dar­über kön­nen wir ja reden, wenn wir unter­wegs sind.

05.07.2020 – Maxim Leo