Letz­ten Sonn­tag um 17.40 Uhr wur­de ich zum Coro­na-Kri­mi­nel­len. Es geschah auf der Bun­des­stra­ße 158 auf der Höhe von Wer­neu­chen, das prä­zi­se fünf­zehn Kilo­me­ter von unse­rem Wochen­end­haus ent­fernt liegt. Weni­ge Stun­den zuvor war der Coro­na-Inzi­denz­wert im Land­kreis Mär­kisch-Oder­land auf über 200 gestie­gen, was eine Rück­fahrt zu unse­rem Ber­li­ner Haupt­wohn­sitz eigent­lich ver­bot. Da wir grund­sätz­lich geset­zes­treue Men­schen sind, berie­ten wir aus­führ­lich, bevor wir es trotz­dem wag­ten. Wich­ti­ge Argu­men­te dabei waren : Ers­tens, unser Kühl­schrank war leer. Zwei­tens : Wir hat­ten am nächs­ten Mor­gen wich­ti­ge Ter­mi­ne in Ber­lin. Drit­tens : Wir hat­ten unse­re Töch­ter ledig­lich mit dem Ver­spre­chen aufs Land locken kön­nen, sie pünkt­lich am Sonn­tag­abend wie­der zurück zu chauffieren.

Gegen unse­re Ent­schei­dung spra­chen der Kant­sche Impe­ra­tiv, die Seu­chen­schutz­ver­ord­nung und die Erkennt­nis eines berühm­ten Kri­mi­nal­psy­cho­lo­gen, von dem ich kürz­lich las­der, vie­le Berufs­ver­bre­cher hät­ten ihre kri­mi­nel­le Kar­rie­re mit einem Baga­tell­ver­ge­hen begon­nen. Der Schritt von der Geset­zes­treue zum schein­bar harm­lo­sen Ver­ge­hen ver­än­de­re den inne­ren Kom­pass eines Men­schen unwi­der­bring­lich, mein­te der Psychologe.

Was mich zu der Fra­ge brach­te, wie geset­zes­kon­form mein Leben bis­her ver­lau­fen ist. Bestür­zen­der­wei­se fie­len mir inner­halb weni­ger Minu­ten eine Men­ge Taten ein, die, hät­te man mich erwischt, ein ganz hüb­sches Straf­re­gis­ter erge­ben wür­den. Sie wer­den ver­ste­hen, lie­be Leser, dass ich aus Grün­den des Selbst­schut­zes nicht ins Detail gehen kann. Des­halb hier nur ein paar hof­fent­lich bereits ver­jähr­te Sachen : Mit fünf Jah­ren ein Ein­bruch in eine Gar­ten­lau­be. Mit sie­ben Jah­ren der Mord an min­des­tens vier Karp­fen durch das Wer­fen von Brannt­kalk in den Teich unse­res bescheu­er­ten Nach­barn. Mit neun Jah­ren das Fah­ren eines Tra­bant 601 ohne Füh­rer­schein. Mit sech­zehn Jah­ren alko­hol­sier­tes Fah­ren eines Lada 1600 ohne Füh­rer­schein. Mit sieb­zehn Jah­ren Land­frie­dens­bruch und Stö­rung der Toten­ru­he infol­ge des nächt­li­chen Ein­drin­gens auf ein Fried­hofs­ge­län­de, zusam­men mit einer flüch­ti­gen Dis­co-Bekannt­schaft, mit der es zwi­schen zwei Grab­stel­len zu, nun ja, sexu­el­len Hand­lun­gen kam. Mit neun­zehn Jah­ren zahl­rei­che Ver­stö­ße gegen das Betäu­bungs­mit­tel­ge­setz. Mit zwan­zig fast schon spor­tiv betrie­be­ner Laden­dieb­stahl, ins­be­son­de­re von CD’s und Kos­me­tik­pro­duk­ten. Wobei ich nur ein ein­zi­ges Mal erwischt wur­de, nach­dem ich eine Dose Haar­fes­ti­ger in den Hosen­bund gesteckt hat­te, die Schutz­kap­pe zu Boden fiel und ich beim Bücken einen Schaum­strahl aus­lös­te, der mir jeg­li­ches Ent­las­tungs­ar­gu­ment nahm.

Ich könn­te jetzt sagen, dass nach mei­ner kri­mi­nel­len Jugend eine Art Kathar­sis ein­ge­setzt hat und ich, in Kennt­nis mei­ner inne­ren Dämo­nen, zu einem rest­los recht­schaf­fe­nen Erwach­se­nen wur­de, der spä­ter mit Erstau­nen und Abscheu auf sich selbst zurückblickte.

Aber das wäre eine Lüge.

Die Wahr­heit ist, der Psy­cho­lo­ge hat wahr­schein­lich recht, wer ein­mal über die Gren­ze geht, der tut es immer wie­der. Mich wür­de inter­es­sie­ren, ob es Men­schen gibt, die sich ihr gan­zes Leben lang kom­plett geset­zes­kon­form ver­hal­ten haben. Ech­te Ver­bots-Jung­frau­en sozu­sa­gen. Ich wet­te, so etwas gibt es nicht. Und wenn doch, dann bereu­en sie es bestimmt, weil es mei­ner Erfah­rung nach vor allem die ver­bo­te­nen Din­ge sind, an die man sich am liebs­ten erin­nert. Ich war bestimmt zwan­zig Mal im Frei­bad Pan­kow, aber nur ein ein­zi­ges Mal habe ich mich nachts rein­ge­schli­chen, und die­se Nacht, die möch­te ich um kei­nen Preis missen.

Zwei Tage nach der im Fami­li­en­kreis began­ge­nen Coro­na-Straf­tat wur­de übri­gens bekannt, dass Rei­sen zwi­schen Erst- und Zweit­wohn­sitz auch über den 15-Kilo­me­ter-Radi­us hin­aus gestat­tet sind. Scha­de eigentlich.

14.01.2021 – Maxim Leo