Zur­zeit lese ich täg­lich in der Zei­tung über mich. Im Fern­se­hen bin ich auch das ganz gro­ße The­ma. Das Radio schal­te ich kaum noch an. Aus Angst.

Bei der Bun­des­tags­wahl haben vie­le ost­deut­sche Män­ner die AfD gewählt. Seit­dem wer­den wir ana­ly­siert, befragt, beur­teilt, ver­lacht. Wolf Bier­mann sagt im „Spie­gel“: Wir sind fei­ge. Ande­re sagen: Wir sind abge­hängt, frus­triert, aggres­siv, unge­bil­det, ras­sis­tisch, hei­mat­los, frau­en­los. Gab es seit Gollum aus „Herr der Rin­ge“ ein häss­li­che­res Wesen als den ost­deut­schen Mann?

Ich schrei­be die­se Zei­len als Betrof­fe­ner. Ich bin seit mei­ner Geburt ein ost­deut­scher Mann. Für mei­ne Mut­ter war das nie leicht, zumal auch mein Bru­der trotz aller ärzt­li­chen Bemü­hun­gen ein ost­deut­scher Mann wur­de. Als Kind saug­te ich an den gif­ti­gen Milch­brüs­ten der Dik­ta­tur, und wenn ich heu­te, 27 Jah­re nach Ende der DDR, das Wort „Demo­kra­tie“ schrei­ben möch­te, ver­krampft sich mei­ne Hand wie bei einem Erst­kläss­ler und dann steht da plötz­lich: „Aus­län­der raus!“. Es ist eine Art Ost-Tourette-Syndrom.

In der Ber­li­ner Zei­tung las ich, dass der ost­deut­sche Mann sich zuweilen„Waffen und Camou­fla­ge­an­zü­ge” kauft und von „Ord­nung und Füh­rung“ träumt. Das erschien mir stark über­trie­ben, ja gera­de­zu kli­schee­haft. Aber dann schau­te ich in mei­nen Klei­der­schrank und sah dort zehn Camou­fla­ge­an­zü­ge neben einem Hau­fen frisch­po­lier­ter Schnellfeuerpistolen!

„Seit der Wahl geht mir mei­ne Frau aus dem Weg”

Ich such­te Rat bei mei­ner Frau, doch seit der Wahl geht sie mir aus dem Weg. Sie kommt aus dem Wes­ten, bei uns sind die Auf­ga­ben klar ver­teilt: Sie macht Kar­rie­re und bringt das Geld nach Hau­se. Ich küm­me­re mich um die Kin­der, da ich durch mei­ne Lang­zeit­ar­beits­lo­sig­keit viel Tages­frei­zeit habe, die ich sonst nur mit Hass-Pos­tings im Inter­net ver­trö­deln wür­de. Abends hei­ze ich unser Sex­le­ben an, auf dem Gebiet der Ero­tik ist der Ost-Mann ja eine ent­hemm­te Spit­zen­kraft. Dumm fickt gut. Ich strip­pe, mei­ne Frau steckt mir West­geld in den ver­wa­sche­nen Schlüp­fer und bestaunt mein Haken­kreuz-Tat­too. Seit der Wahl lese ich in den Augen mei­ner Frau nur noch ein Wort: Loser.

Jah­re­lang war mein Image als ost­deut­scher Mann mehr oder weni­ger das einer Witz­fi­gur. Der demo­kra­tisch zurück­ge­blie­be­ne Trot­tel vom Dienst. Eine dank­ba­re Auf­ga­be, in der ich mei­ne uro­st­deut­schen Stär­ken aus­spie­len konn­te. Seit der Wahl bin ich eine Hass­fi­gur, selbst die Kin­der aus der Nach­bar­schaft ren­nen weg, wenn ich mit Camou­fla­ge­an­zug, Gewehr und AfD-Müt­ze aus dem Haus tre­te. Das tut weh.

Bei Zeit Online las ich einen Arti­kel mit der Über­schrift „Wer ist der ost­deut­sche Mann?“ Es klang, als wür­den sie den Yeti suchen, oder das Unge­heu­er von Loch Ness. Fast wäre ich in die Redak­ti­on gefah­ren und hät­te gesagt: Huhu, da bin bin ich! Aber man weiß nie, wie Men­schen reagie­ren, die noch nie einen ost­deut­schen Mann getrof­fen haben.

Manch­mal schrei­be ich jetzt mei­nem Kum­pel Bill Tucker. Er wohnt in Kan­sas, USA, wir haben uns über die Face­book-Sei­te „Angry White Men“ ken­nen­ge­lernt. Bill schreibt, dass wir uns unse­re Län­der bald zurück­ho­len wer­den. Von den Negern, Kana­ken und Boh­nen­fres­sern. Das hat mich total berührt, das war mir ein rich­ti­ger inne­rer Fackel­zug und Reichs­par­tei­tag, auch wenn ich nicht alles ver­stand, was Bill schrieb, als abge­häng­ter Ost-Mann ist mein Eng­lisch not gut. Trotz­dem: Senk ju, Bill!

Gott will den ost­deut­schen Mann abschaffen

Ges­tern klin­gel­te es dann an der Tür, ich öff­ne­te und dort stand: Gott. Viel­leicht hat­te ich wie­der zu viel Hartz IV-Geld ver­sof­fen, aber ich schwö­re, da stand Gott und sag­te: „Jochen, ich muss den ost­deut­schen Mann abschaf­fen. Er ist eine Fehl­kon­struk­ti­on. Ein gött­li­cher Irr­tum. So wie der Wir­sing­kohl. Oder ein Fuchs mit drei Bei­nen.“ Ich frag­te: Wie denn abschaf­fen? Im Meer ver­klap­pen? „Schö­ne Idee“, sag­te Gott, hat­te aber einen ande­ren Plan. „Du kannst wäh­len: Willst Du zukünf­tig als Ost-Frau wei­ter­le­ben. Oder als West-Mann?“ Schon wie­der wäh­len, dach­te ich. Das ist doch gar nicht mei­ne Stärke.

PS: Das Wahl­er­geb­nis lag bei Redak­ti­ons­schluss noch nicht vor.

01.10.2017 – Jochen-Mar­tin Gutsch